Die Muschelsucher
heruntergekommen war und nun im Wohnzimmer bei einem Drink saß.
Nach einer Weile sagte sie, ihre Worte mit Bedacht wählend: »Olivia hat ihn auch geliebt, so sehr, wie sie jemals einen Mann lieben kann.«
»Er wollte sie heiraten. Aber sie wollte nicht.«
»Machst du ihr deshalb Vorwürfe?«
»Nein. Ich bewundere sie. Sie war ehrlich. Und sehr stark.«
»Sie ist ein besonderer Mensch.«
»Ich weiß.«
»Sie hat nie heiraten wollen, und ich glaube, sie will es auch jetzt noch nicht. Sie schreckt davor zurück, sich zu binden und von jemandem abhängig zu sein und Wurzeln zu schlagen.«
»Sie hat ihre Arbeit.«
»Ja. Ihre Arbeit. Ihre Arbeit ist für sie wichtiger als alles andere. «
Antonia dachte darüber nach. Dann sagte sie: »Es ist merkwürdig. Man könnte es besser verstehen, wenn sie eine unglückliche Kindheit gehabt oder ein schreckliches Trauma erlitten hätte. Aber bei einer Mutter wie dir kann ich mir so etwas einfach nicht vorstellen. Unterscheidet sie sich sehr von deinen anderen Kindern?«
»O ja.« Penelope lächelte. »Nancy ist das genaue Gegenteil von ihr. Sie hat immer nur davon geträumt, zu heiraten und Kinder zu bekommen und ein eigenes Haus zu haben. Möglichst ein schönes großes Haus, aber es gibt viele, die das möchten. Sie tut niemandem etwas. Sie ist auf ihre Weise glücklich. Ich nehme jedenfalls an, daß sie es ist. Sie hat das erreicht, was sie wollte.«
»Und du?« fragte Antonia. »Wolltest du heiraten?«
»Ich? Du meine Güte, das ist schon so lange her, ich kann mich kaum noch daran erinnern. Ich glaube, ich habe nicht viel darüber nachgedacht. Ich war erst neunzehn, und es war Krieg. Im Krieg haben wir alle nicht sehr weit in die Zukunft gedacht. Sondern von einem Tag zum anderen gelebt.«
»Was ist aus deinem Mann geworden?«
»Ambrose? Oh, er ist ein paar Jahre nach Nancys Heirat gestorben.«
»Warst du einsam?«
»Ich war allein, aber das ist nicht dasselbe wie einsam.«
»Ich habe noch nie erlebt, daß jemand, der mir nahestand, gestorben ist. Ich meine, vor Daddy.«
»Wenn man zum erstenmal jemanden verliert, den man geliebt hat, ist es am schlimmsten. Aber die Zeit heilt vieles, und man verarbeitet es und kommt allmählich darüber hinweg.«
»Ich nehme an, du hast recht. Daddy hat immer gesagt: ›Das ganze Leben ist ein Kompromiß‹.«
»Das war sehr klug. Für manche von uns kann es nichts anderes sein. Aber was dich betrifft, so hätte ich mir gewünscht, das Schicksal wäre nicht so grausam zu dir gewesen.«
Antonia lächelte. Die Illustrierte war schon vor einer ganzen Weile zu Boden gefallen, und ihre Augen hatten den fiebrigen Glanz verloren. Sie wurde zunehmend schläfrig, wie ein kleines Kind. »Du bist müde«, sagte Penelope. »Ja. Ich glaube, ich werde jetzt schlafen.«
»Steh nicht zu früh auf.« Sie erhob sich vom Bettrand und trat ans Fenster, um den Vorhang zuzuziehen. Es hatte aufgehört zu regnen, und aus der Schwärze ringsum klang der klagende Ruf einer Eule. »Gute Nacht. Schlaf gut.« Sie ging zur Tür, öffnete sie und löschte das Licht. »Penelope.«
»Ja?«
»Es ist so schön, hier zu sein. Bei dir.«
»Schlaf gut, mein Kind.« Sie machte die Tür zu. Im Haus war alles still, und unten brannte kein Licht mehr. Noel hatte offensichtlich beschlossen, in sein Zimmer zu gehen, und lag im Bett. Es gab für sie nichts mehr zu tun.
Sie trat in ihr Schlafzimmer und ging ein paarmal auf und ab, ehe sie ins Bad ging, sich die Zähne putzte, ihr Haar bürstete und Nachtcreme auftrug. Sie ließ sich Zeit. Sie trat im Nachthemd ans Fenster und zog den schweren Vorhang zurück. Durch das offene Fenster drang ein kalter und feuchter Windhauch, der einen süßen Duft von Erde mitbrachte, als regte sich der Garten nun, wo der Frühling unmittelbar bevorstand, aus seinem langen Winterschlaf. Die Eule rief wieder, und es war so still, daß sie das leise Murmeln des Windrush hören konnte, der hinter der Obstwiese dahinfloß.
Sie drehte sich um, stieg ins Bett und knipste die Lampe aus. Ihr Körper fühlte sich schwer und müde, dankbar für die Geborgenheit, die die warme Decke und das weiche Kissen ihm verschafften, aber ihr Geist war hellwach, denn Antonia hatte die Vergangenheit mit ihrer kindlichen Neugier auf eine beunruhigende und nicht uneingeschränkt willkommene Weise wachgerufen, und sie, Penelope, hatte ihre Fragen sehr vorsichtig beantwortet, ohne zu lügen, aber auch ohne die ganze Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit war zu
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