Die Muschelsucher
gewesen. Blond, blauäugig, niedlich und artig und (dank Großmutter Keeling) hübsch gekleidet. Nancy hatte Blicke auf sich gezogen, Bewunderung erregt, Männer nervös gemacht. Olivia war intellektuell und ehrgeizig, eine Streberin, die nur an Prüfungen und gute Noten dachte, aber sie war eine graue Maus, rief Nancy sich ins Gedächtnis, eine richtige graue Maus. Schrecklich groß und mager, flach wie ein Brett und mit einer häßlichen Brille, ein fast provozierendes Desinteresse am anderen Geschlecht und stumm wie ein Fisch, wenn einer von Nancys Freunden zu Besuch kam - aber meist verzog sie sich dann in ihr Zimmer, um zu lesen. Aber sie hatte auch anziehende Züge. Sie wäre nicht die Tochter ihrer Eltern gewesen, wenn sie keine gehabt hätte. Ihr wundervolles dichtes Haar hatte die Farbe und den Glanz von poliertem Mahagoni, und in den dunklen Augen, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte und die so oft an die Augen eines Vogels erinnerten, blitzte eine schelmische Intelligenz.
Was war eigentlich geschehen? Die schlaksige Streberin, die Schwester, mit der niemand tanzen wollte, hatte sich irgendwie, irgendwann und irgendwo in dieses Phänomen verwandelt, in die umwerfende Olivia, die erfolgreiche Karrierefrau, die Chefredakteurin von Venus.
Ihr Äußeres war ebenso streng wie früher. Sogar unattraktiv, aber fast beängstigend schick. Schwarzer Samthut mit kleiner, niedrig angesetzter Krempe, weiter schwarzer Mantel, cremefarbene Seidenbluse, goldene Ketten und goldene Ohrringe, große Ringe an den Fingern. Ihr Gesicht war blaß, ihr Mund blutrot; sie hatte es sogar geschafft, die große Brille mit dem schwarzen Gestell in ein beneidenswertes Accessoire zu verwandeln. Nancy war nicht dumm. Während sie Olivia durch das vollbesetzte Restaurant zu ihrem Tisch gefolgt war, hatte sie das unverhohlene Interesse der anwesenden Männer gespürt, die verstohlenen Blicke und umgewandten Köpfe bemerkt und gewußt, daß all das nicht ihr, der hübschen Nancy, sondern ihrer Schwester Olivia galt. Nancy hatte nie groß darüber nachgedacht, ob es in Olivias Leben dunkle Geheimnisse gab. Bis zu jenem bemerkenswerten Ereignis vor fünf Jahren hatte sie ernstlich geglaubt, ihre Schwester sei entweder noch Jungfrau oder sexuell vollkommen desinteressiert. (Es gab natürlich eine andere, schlimmere Möglichkeit, die Nancy eingefallen war, nachdem sie sich pflichtschuldigst durch eine Biographie von Vita Sackville-West gequält hatte, aber darüber, sagte sie sich, sollte man lieber nicht nachdenken.) Olivia, das klassische Beispiel einer ehrgeizigen und gescheiten Frau, hatte offenbar nur für ihre Arbeit gelebt und dabei unaufhaltsam Karriere gemacht, bis sie schließlich Redakteurin für besondere Aufgaben bei Venus geworden war, der anspruchsvollen Zeitschrift für jüngere berufstätige Frauen, bei der sie seit sieben Jahren gearbeitet hatte. Ihr Name stand im Impressum unter der Rubrik »Verantwortliche Redakteure«, ab und zu erschien ihr Foto in einem Bericht, den sie geschrieben hatte, und einmal war sie in einer Familiensendung im Fernsehen aufgetreten und hatte Fragen beantwortet.
Und dann, mitten auf dem Weg nach oben, offenbar erst am Anfang der Erfolgsleiter, hatte sie jenen unerwarteten Schritt getan, der ihr überhaupt nicht ähnlich sah. Sie machte Urlaub in Ibiza, lernte einen Mann namens Cosmo Hamilton kennen und kam nicht zurück. Das heißt, sie kam schließlich doch zurück, aber erst, nachdem sie dort ein Jahr lang mit ihm gelebt hatte. Ihre Chefredakteurin erfuhr davon aus einem sehr förmlichen Brief, in dem sie kündigte. Als Nancy die sensationelle Nachricht von ihrer Mutter hörte, hatte sie die Sache zuerst nicht glauben wollen. Sie hatte sich gesagt, es sei einfach zu skandalös, aber der wahre Grund bestand darin, daß sie irgendwie das Gefühl hatte, Olivia habe ihr die Schau gestohlen.
Sie konnte es kaum abwarten, George die Neuigkeit zu berichten, damit er ebenso sprachlos wäre wie sie, als sie es gehört hatte, aber seine Reaktion hatte sie sehr überrascht. »Interessant«, war alles, was er gesagt hatte. »Du scheinst nicht sehr überrascht zu sein.«
»Nein.«
Sie runzelte die Stirn. »George, wir reden von Olivia.«
»Ja, ich weiß.« Er betrachtete ihr konsterniertes Gesicht und hätte um ein Haar gelacht. »Nancy, du bildest dir doch wohl nicht ein, daß Olivia bis heute wie eine Nonne gelebt hat? Die geheimnistuerische Olivia mit ihrer Londoner Wohnung, die nie etwas über ihr
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