Die Muschelsucher
wurden nach Brombeeren, Hagebutten, Holunderbeeren abgesucht, taubenetzte Wiesen im Morgengrauen nach Champignons. Sie schleppten abgebrochene Zweige und heruntergefallene Fichtenzapfen nach Haus, um Feuer machen zu können, und sammelten am Strand Treibholz, das sie trocknen ließen und zu Scheiten spalteten - sie nahmen alles, was den Warmwasserboiler und den Wohnzimmerkamin in Gang halten konnte. Warmes Wasser war besonders kostbar. Das Wasser in der Badewanne durfte nur sieben Zentimeter hoch stehen - Papa zog eine Art Wasserstandslinie, an die sich alle halten mußten - , und sie hatten sich aus Sparsamkeitsgründen angewöhnt, vor dem Badezimmer Schlange zu stehen und nacheinander in dasselbe Wasser zu steigen, zuerst die Kinder und dann die Erwachsenen, und wer als letzter an der Reihe war, seifte sich wie rasend ein, ehe das Wasser ganz kalt wurde.
Kleidung war ein anderes heikles Problem. Der größte Teil der Textilmarken ging dafür drauf, Schuhzeug für die Kinder zu kaufen und alte, durchgescheuerte Laken und Wolldecken zu ersetzen, so daß für persönliche Kleidungsstücke nichts übrigblieb. Doris, die sich gern schick anzog, fand das unerträglich und änderte in einem fort alte Sachen um, ließ hier einen Saum aus, nähte dort einen Kragen an oder zerschnitt ein Baumwollkleid, um eine Bluse daraus zu machen. Einmal verwandelte sie einen blauen Wäschesack in einen Dirndlrock.
»Da vorn ist ja ›Wasch mich‹ draufgestickt«, rief Penelope, als Doris ihn anprobierte und begutachten ließ. »Meinst du, ich sollte ›Hasch mich‹ daraus machen?« Penelope machte sich nichts draus, wie sie herumlief. Sie trug ihre alten Sachen auf, und wenn diese sich in ihre Bestandteile auflösten, stöberte sie in Sophies Schränken und Kommoden und eignete sich alles an, was noch darin hing und lag. »Wie kannst du bloß?« sagte Doris, denn sie fand, daß Sophies Sachen heilig seien, und vielleicht hatte sie recht. Aber Penelope fror. Sie zog eine Shetland-Strickjacke an, die ihrer Mutter gehört hatte, knöpfte alle Knöpfe zu und erlaubte sich keine Gewissensbisse.
Sie trug die meiste Zeit keine Strümpfe, doch wenn im Januar die eisigen Ostwinde bliesen, nahm sie die dicken schwarzen Dinger aus ihrer Zeit beim Frauen-Marinehilfskorps, und als ihr fadenscheiniger Wintermantel zuletzt beim besten Willen nicht mehr zu flicken war, schnitt sie ein Loch in eine alte Wagendecke (Clan-Muster mit Fransen ringsum) und trug sie als Poncho. Papa sagte, sie sehe damit aus wie eine mexikanische Zigeunerin, und als er es sagte, lächelte er vor Freude über ihr Improvisationstalent. Er lächelte neuerdings nicht sehr oft. Er war seit Sophies Tod sehr alt und gebrechlich geworden. Seine alte Beinverwundung aus dem Ersten Weltkrieg machte sich aus irgendeinem Grund wieder bemerkbar. Das kalte und feuchte Winterwetter setzte ihm zu, und er hatte sich angewöhnt, an einem Stock zu gehen. Er ging gebeugt, er war sehr dünn geworden, und seine verkrüppelten Hände sahen merkwürdig leblos und wächsern aus, so wie die Hände eines Mannes, der bereits tot ist. Nicht mehr imstande, im Haus und im Garten viel zu tun, saß er die meiste Zeit mit Fäustlingen und einer Wolldecke über den Schultern vor dem Kamin im Wohnzimmer und las Zeitung oder seine geliebten alten Bücher, hörte Radio oder schrieb unter großer Mühe und Qual Briefe an alte Freunde, die in anderen Landesteilen lebten. Wenn die Sonne schien und kleine weiße Schaumkronen auf dem blauen Meer tanzten, teilte er ihnen manchmal mit, daß er gern ein wenig frische Luft schnappen würde, und dann holte Penelope seinen Mantel mit dem Capeüberwurf, seinen breitkrempigen Hut und den Spazierstock, und sie gingen Arm in Arm den Hügel hinunter zum Ort, schritten durch die abschüssigen Gassen zum Hafen und gingen bis zum Ende der Mole, um die Fischerboote und die Möwen zu betrachten, und dann schauten sie vielleicht ins Sliding Tackle hinein und tranken einen Sherry, und wenn der Wirt keinen unter seiner Theke hervorzaubern konnte, tranken sie ein Glas lauwarmes, wäßriges Bier. Oder sie gingen, wenn er sich kräftig genug fühlte, ganz bis zum Nordstrand und zum alten Atelier, das nun zugesperrt war und nur noch selten betreten wurde, oder sie nahmen den abschüssigen Weg zum Museum, wo er so gern saß und die Bilder betrachtete, die er und seine Kollegen als Grundstock der Sammlung gestiftet hatten, und sich in den stummen und einsamen Erinnerungen eines alten
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