Die Muschelsucher
ausgestellt worden. Aus irgendeinem Grund ist es ein sehr persönliches Bild. Er hat nie daran gedacht, es zu verkaufen.« Sie waren von der Hafenstraße abgebogen und gingen nun durch die schmalen Gassen und Sträßchen den Hügel hinauf. »Als der Krieg erklärt wurde, habe ich eben diesen Weg genommen, um Papa zum Lunch abzuholen. Als die Kirchturmuhr elf schlug, flogen die Möwen davon, die auf dem Turm saßen, und zerstreuten sich in alle Richtungen.« Sie bogen um die letzte Ecke, vor ihnen lag der Nordstrand, und die ungebrochene Kraft des Winds traf sie wiederum wie ein Schock, der sie zwang, eine Sekunde lang zu zögern und die Luft anzuhalten, ehe sie den gewundenen Weg zum Atelier einschlugen.
Penelope steckte den Schlüssel in das rostige Schloß, drehte ihn um und drückte die massive Tür auf. Sie führte Richard hinein und wurde sofort von einem Gefühl der Scham gepackt, denn sie war seit Monaten nicht mehr hier gewesen, und der große, hohe Raum bot ein Bild der Unordnung und Verwahrlosung. Es war kalt, und die abgestandene Luft roch nach Terpentin, Holzrauch, Teer und Schimmel. Das gleißend klare Nordlicht, das durch das hohe Fenster hereinfiel, unterstrich den allgemeinen Verfall und das Durcheinander auf unbarmherzige Weise.
Richard schloß die Tür hinter ihr. Sie sagte kurz: »Es sieht furchtbar aus. Und es ist feucht.« Sie durchquerte den Raum, entriegelte das Fenster und öffnete es mit einiger Mühe. Sie sah den verlassenen Strand, die weit entfernte Wasserlinie - es war Ebbe - und den weißen Dunst, der von der Brandung aufstieg.
Er trat zu ihr. Er sagte langsam, mit einer gewissen Befriedigung: »Die Muschelsucher.«
»Ja. Er hat es von diesem Fenster aus gemalt.« Sie drehte sich wieder um und betrachtete die Unordnung ringsum. »Sophie würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie Papas Atelier so sehen könnte.«
Der Fußboden, jede waagerechte Fläche war mit einer dünnen Sandschicht bedeckt. Auf einem Tisch bildeten ein Stapel zerlesener Illustrierten, ein voller Aschenbecher und ein vergessenes Badelaken ein sonderbares Stilleben. Der Samtvorhang hinter dem Stuhl des Modells war verschossen und verstaubt, und auf dem Rost vor dem alten Kanonenofen lag ein Haufen längst ausgeglühter Kohlen. Dahinter standen über Eck zwei Polsterliegen, die mit gestreiften Decken und Kissen bedeckt waren, aber die Kissen waren total verblichen, und in eines von ihnen hatte eine Maus ein Loch geknabbert und eine lange Daunenspur gezogen. Penelope wußte kaum, wo sie anfangen sollte, aber sie mußte einfach ein wenig Ordnung schaffen. Sie fand eine große alte Tüte, schüttete die Zigarettenkippen und den Rest der Kissenfüllung hinein und stellte sie an die Tür, um sie nachher in die nächste Mülltonne zu werfen. Sie nahm die anderen Kissen von den Liegen und legte sie auf den Boden, zog die Decken ab, ging damit ans offene Fenster und schüttelte sie in der frischen kalten Luft kräftig aus. Der Wind wirbelte Mäusedreck und Staubflusen auf. Als sie die Decken wieder über die Liegen gebreitet und die Kissen darauf verteilt hatte, sah das Ganze schon ein klein wenig besser aus. Richard, den die Unordnung überhaupt nicht zu stören schien, ging derweil herum und schaute sich alles an, sichtlich fasziniert von den Spuren und Indizien der Existenz eines anderen und den überall verteilten Erinnerungen und Fundstücken: Muschelschalen, Kiesel, die vom Meer zu bizarren Formen gewaschen worden waren, Treibholzstücke, Dinge, die Lawrence wegen ihrer Farbe und Textur gesammelt und aufgehoben hatte, an die Wand geheftete Fotografien, der Gipsabdruck einer Hand, ein Steinzeugkrug mit Federn von Seevögeln und getrockneten Gräsern, so fein wie Staub. Staffeleien, Stapel alter Leinwände und Skizzenblöcke,
Tabletts mit Farbtuben, deren Inhalt längst ausgetrocknet war, alte Paletten und Pinsel mit den Spuren der Farben, die er besonders gern benutzt hatte - Zinnoberrot, Ocker, Kobaltblau und gebrannte Siena. »Wann hat Ihr Vater aufgehört zu arbeiten?«
» Schon vor Jahren.«
»Und trotzdem ist noch alles da.«
»Er würde nie etwas fortwerfen, und ich bringe es einfach nicht übers Herz.«
Er blieb vor dem runden Ofen stehen.
»Machen wir doch Feuer. Es muß etwas gegen die Feuchtigkeit getan werden.«
»Ja, sicher. Aber ich habe keine Zündhölzer dabei.«
»Ich habe welche.« Vorsichtig öffnete er die Ofenklappe und stocherte mit dem stumpfen Ende eines Schürhakens in der Asche. »Hier ist
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