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Die Muschelsucher

Die Muschelsucher

Titel: Die Muschelsucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosamunde Pilcher
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eine Sache haben will, wird sie auch nichts bringen. Lawrence Stern hat nicht viele Bilder gemalt. Wenn du dir mal ansiehst, wie sorgfältig die Details gemalt sind, wirst du den Grund verstehen. Er muß monatelang daran gearbeitet haben.«
    »Aber was ist mit all seinen Bildern geschehen?«
    »Er hat sie verkauft. Wahrscheinlich von der Staffelei weg, während die Farbe noch nicht restlos getrocknet war. Wahrscheinlich gibt es in jeder guten Privatsammlung und in jedem Museum der Welt, das etwas auf sich hält, einen Lawrence Stern. Heutzutage kommt nur noch dann und wann ein Bild von ihm auf den Markt. Und du darfst nicht vergessen, daß er lange vor dem Krieg aufgehört hat zu malen, weil seine Hände so verkrüppelt waren, daß er nicht mal mehr einen Pinsel halten konnte. Ich nehme an, er hat alles verkauft, was er verkaufen konnte, und war froh, daß er sich und seine Familie mit dem Geld über Wasser halten konnte. Er ist mit seinen Bildern nie reich geworden, und es war ein Glück für uns, daß er das große Haus in London von seinem Vater erbte und dann Cam Cottage kaufen konnte. Ohne den Verkauf von Cam Cottage hätten wir keine Ausbildung bekommen, und von dem Geld von der Oakley Street lebt Mama jetzt.«
    Nancy hörte sich all das an, ohne es richtig aufzunehmen. Ihre Gedanken liefen in eine andere Richtung, kreisten um Möglichkeiten, stellten Mutmaßungen an.
    Sie bemerkte so beiläufig sie konnte: »Und die Bilder von
    Mutter?«
    »Du meinst Die Muschelsucher?«
    »Ja. Und die beiden anderen oben im Flur.«
    »Was ist mit ihnen?«
    »Würden sie viel Geld bringen, wenn sie jetzt verkauft werden würden?«
    »Ich glaube ja.«
    Nancy schluckte. Ihr Mund war wie ausgetrocknet. »Wieviel?«
    »Nancy, ich bin nicht in der Kunstbranche.«
    »Ungefähr.«
    »Ich nehme an. an die fünfhunderttausend.«
    »Fünfhunderttausend.« Es kam fast geräuschlos. Nancy lehnte sich atemlos zurück. Eine halbe Million. Sie sah die Summe schwarz auf weiß vor sich, mit einem Pfundzeichen und vielen schönen Nullen. In diesem Moment servierte der Kellner ihnen den dampfenden, schwarzen und duftenden Kaffee. Nancy räusperte sich und setzte noch einmal an: »Eine halbe Million.«
    »So ungefähr.« Olivia lächelte, was sie in Gegenwart ihrer Schwester nur selten tat, und schob ihr die Zuckerdose hin. »Du siehst also, warum George und du euch keine Sorgen um Mama zu machen braucht.«
    Das war das Ende der Unterhaltung. Sie tranken schweigend ihren Kaffee, Olivia zahlte, und sie gingen zur Garderobe. Da sie in verschiedene Richtungen mußten, bestellten sie zwei Taxen, und Olivia, die wieder einen Termin hatte, nahm den ersten Wagen. Sie verabschiedeten sich vor dem Restaurant, und Nancy sah ihrer Schwester nach. Während sie aßen, hatte es angefangen, heftig zu regnen, aber Nancy merkte kaum, daß sie naß wurde. Eine halbe Million.
    Ihr Taxi näherte sich und hielt. Sie bat den Chauffeur, sie zu Harrods zu fahren, erinnerte sich rechtzeitig daran, dem Portier ein Trinkgeld zu geben, und stieg ein. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Sie lehnte sich zurück und schaute durch die tropfnassen, zunehmend beschlagenen Fenster auf die vorbeigleitenden Häuser, ohne sie recht wahrzunehmen. Sie hatte gar nichts erreicht, aber der Tag war nicht umsonst gewesen. Sie fühlte, wie ihr Herz vor verhaltener Aufregung klopfte. Ein halbe Million Pfund.
    Einer der Gründe für Olivias beruflichen Erfolg war, daß sie die Fähigkeit entwickelt hatte, alle störenden oder irrelevanten Gedanken aus ihrem Kopf zu bannen und ihren scharfen Verstand auf jeweils ein Problem zu konzentrieren. Sie hatte ihr Leben organisiert wie ein U-Boot, mit dicht schließenden Abteilungen, die sicher voneinander abgeschottet waren. So hatte sie heute mittag Hank Spotswood aus ihren Gedanken verbannt und ihre ganze Aufmerksamkeit auf Nancy gerichtet. Auf dem Rückweg zum Büro verdrängte sie ihre Schwester und all deren belanglose Sorgen um Heim und Familie aus ihren Gedanken und war, als sie das Foyer des gediegenen Bürokomplexes betrat, wieder die Chefredakteurin von Venus, die einzig und allein daran dachte, die Auflage ihrer Zeitschrift zu halten und wenn möglich zu steigern. Am Nachmittag diktierte sie Briefe, führte eine Besprechung mit dem Anzeigenchef, organisierte ein PR-Essen im Dorchester und hatte eine seit langem fällige Diskussion mit der für Romane und Erzählungen zuständigen Redakteurin, bei der sie der armen Frau mitteilte, daß Venus,

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