Die Muschelsucher
wenn sie keine besseren Geschichten bringen konnte als bisher, ganz auf erzählende Beiträge verzichten würde und sie sich einen neuen Job suchen müßte. Die Redakteurin, alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern, brach, wie zu erwarten, in Tränen aus, aber Olivia blieb hart; die Illustrierte hatte oberste Priorität, und sie gab der Frau einfach ein Kleenex und eine Gnadenfrist von zwei Wochen, um etwas aus ihrer Schreibtischschublade zu zaubern. Aber all das zehrte fühlbar an ihren Kräften. Sie wurde sich bewußt, daß Freitag war und daß das Wochenende bevorstand, und war dankbar dafür. Sie arbeitete noch bis sechs Uhr weiter und räumte ihren Schreibtisch auf, ehe sie endlich ihren Mantel anzog, ihre Handtasche nahm und mit dem Lift ins Parkgeschoß hinunterfuhr, zu ihrem Wagen ging und nach Hause fuhr.
Der Verkehr war beängstigend, aber sie war es gewohnt, in der Rush-hour zu fahren, und fand sich damit ab. Das imaginäre wasserdichte Schott rastete ein, und Venus hörte auf zu existieren. Es war, als hätte es den Nachmittag nicht gegeben, und sie war wieder mit Nancy im L’Escargot.
Sie war grob zu ihr gewesen, hatte ihr vorgeworfen, sie übertreibe maßlos, hatte die Krankheit ihrer Mutter heruntergespielt und die Prognose des Krankenhausarztes angezweifelt. All das, weil Nancy unweigerlich aus jeder Mücke einen Elefanten machte. Die Ärmste, was sollte sie bei ihrem ereignislosen Leben sonst tun. Aber auch, weil sie, Olivia, das infantile Verlangen hatte, Penelope als kerngesunde Frau in der Blüte ihrer Jahre zu sehen. Sogar als unsterblich. Sie wehrte sich gegen die Vorstellung, daß sie krank sein könnte. Sie wollte nicht, daß sie sterbe.
Ein Herzanfall. Daß so etwas ausgerechnet ihrer Mutter widerfahren mußte, die ihr Leben lang nicht krank gewesen war. Großgewachsen, stark, vital, an allem interessiert und vor allem immer für sie da. Olivia erinnerte sich an die Souterrainküche in der Oakley Street, das Herz des schönen großen Hauses, wo Suppe auf dem Herd köchelte und Leute an dem blankgescheuerten Tisch saßen und stundenlang bei Kaffee und Cognac redeten und diskutierten, während ihre Mutter bügelte oder Bettzeug stopfte. Wenn irgend jemand das Wort »Geborgenheit« gebrauchte, dachte Olivia an jenen herrlichen Platz.
Jetzt auch. Sie seufzte. Vielleicht hatte der Arzt recht. Vielleicht sollte Penelope jemanden ins Haus nehmen. Das beste wäre, wenn sie zu ihr führe, um über alles zu sprechen und wenn nötig zu einem gemeinsamen Entschluß zu kommen. Morgen war Sonnabend. Ich werde morgen hinfahren und mit ihr reden, sagte sie sich und fühlte sich plötzlich viel besser. Morgen früh nach Podmore’s Thatch hinunterfahren und den Tag dort verbringen. Als dieser Entschluß gefaßt war, drängte sie ihn und alles, was damit zusammenhing, aus ihren Gedanken und fing an, sich auf den vor ihr liegenden Abend zu freuen.
Sie war nun fast zu Hause. Sie hielt vor dem Supermarkt um die Ecke, parkte den Wagen und kaufte rasch ein. Knuspriges Brot, Butter und einen Tiegel Gänseleberpastete, Hühnerbrust a la Kiew und Zutaten für einen Salat. Olivenöl, frische Pfirsiche, Käse. Eine Flasche Scotch, einige Flaschen Wein. Dann kaufte sie noch Blumen, einen Armvoll Narzissen, lud alles in den Kofferraum und fuhr das letzte kurze Stück zur Ranfurly Road. Ihr Haus stand in einer Zeile kleiner edwardianischer Reihenhäuser aus rotem Backstein, alle mit einem Erker, einem Vorgarten und einem Plattenweg zu den Eingangsstufen. Von draußen sah es bescheiden und unscheinbar aus, um so mehr staunte man, wenn man das großzügige Innere betrat. Die winzigen Zimmer im Erdgeschoß waren in einen geräumigen Wohn- und Eßbereich mit einer offenen, nur durch eine Arbeitstheke vom restlichen Raum getrennten Küche und einer modernen Treppe zum ersten Stock verwandelt worden. Die Fenstertüren an der anderen Seite führten in einen kleinen Garten und boten einen überraschend ländlichen Ausblick, denn hinter dem Gartenzaun war eine Kirche mit einem an die tausend Quadratmeter großen Rasengrundstück, wo im Sommer unter einer gewaltigen Eiche Sonntagsschulpicknicks veranstaltet wurden.
Schon deshalb war es ganz natürlich, daß Olivia sich für eine landhausähnliche Einrichtung mit schlichten Baumwollstoffen und Möbeln aus hellem Kiefernholz entschieden hatte, aber sie hatte es gleichzeitig geschafft, dem Raum die moderne Sachlichkeit einer Penthouse-Wohnung zu geben. Die Grundfarbe war weiß.
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