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Die Muschelsucher

Die Muschelsucher

Titel: Die Muschelsucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosamunde Pilcher
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im Kamin. Sie erinnerte sich, wie sie an langen Winternachmittagen aufgeregt schnatternd und mit einem Bärenhunger von der Schule kamen, ihre Ranzen hinwarfen und ihre Mäntel auszogen und sich an den Tisch setzten, um gewaltige Mengen von Würstchen, Spaghetti, Fischfrikadellen, Toast mit Butter und Zwetschgenkuchen zu vertilgen und literweise Kakao zu trinken. Sie dachte, wie schön es in der Weihnachtszeit dort unten gewesen war, an den herrlichen Duft der Tanne und die vielen Weihnachtskarten, die an roten Bändern aufgehängt waren wie Wäsche an der Leine. Sie dachte an die Sommer, wenn die Glastüren zum Garten den ganzen Tag offengestanden hatten, an den Schatten unter den Bäumen, den Geruch der Tabakpflanzen und den Duft des Goldlacks. Sie dachte an die Kinder, die im Garten gespielt und vor lauter Lebensfreude fröhlich gekreischt hatten. Nancy war eines von ihnen gewesen.
    All das hatte sie Nancy gegeben, aber sie hatte ihr nicht das geben können, was sie sich wünschte (Nancy sagte nie »wünschte«, sie sagte »brauchte«), weil sie nie genug Geld für die Kleidungsstücke und die anderen teuren Dinge gehabt hatte, die Nancy unbedingt wollte. Partykleider, Puppenkinderwagen, ein Pony, Internate, einen Debütantinnenball und eine Saison in London. Eine große und protzige Hochzeit war der Gipfel ihres Ehrgeizes gewesen, aber dieser Herzenswunsch war nur durch die Intervention Dolly Keelings erfüllt worden, die das geschmacklose und peinliche Fest organisiert (und bezahlt) hatte.
    Endlich legte sie die Bürste hin. Sie war immer noch zornig auf Nancy, aber die einfache Tätigkeit hatte sie beruhigt. Sie fühlte sich schlagartig besser, stärker, sicherer und wieder in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Sie flocht das Haar, drehte es hoch, griff nach den Schildpattnadeln und steckte den Knoten energisch.
    Als Antonia eine halbe Stunde später kam, um sie zu holen, lag sie mit ihrer Handtasche neben sich und dem Buch in der Hand wieder auf dem Bett.
    Ein leises Klopfen und Antonias Stimme: »Penelope?«
    »Herein.« Die Tür ging auf, und Antonia steckte den Kopf ins Zimmer. »Ich wollte nur sehen, ob.« Sie trat ins Zimmer und schloß die Tür hinter sich. »Du bist im Bett!« Sie machte ein besorgtes Gesicht. »Fehlt dir etwas? Bist du krank?«
    Penelope klappte das Buch zu. »Nein, nicht krank. Nur ein bißchen müde. Und mir ist nicht danach, zum Dinner hinunterzugehen. Entschuldige. Habt ihr auf mich gewartet?«
    »Nur ein paar Minuten.« Antonia setzte sich auf den Bettrand. »Wir sind in die Bar gegangen, aber als du nicht kamst, hat Danus gesagt, ich sollte nachsehen, ob etwas passiert sei.« Sie sah, daß Antonia sich festlich angezogen hatte. Sie trug einen engen schwarzen Rock und die weite, cremefarbene Seidenbluse, die sie zusammen in Cheltenham gekauft hatten. Ihr schimmerndes rotblondes Haar hing bis auf die Schultern, und ihr Gesicht war klar und hell wie ein süßer Augustapfel, ohne künstliche Zutaten. Abgesehen davon, daß die langen, seidigen Wimpern nun schwarz waren.
    »Möchtest du nichts essen? Soll ich den Zimmerservice anrufen und dir etwas bestellen?«
    »Vielleicht. Später. Aber das kann ich selbst tun.«
    »Du hast dir bestimmt zuviel zugemutet«, sagte Antonia vorwurfsvoll. »Du bist zuviel ohne Danus und mich herumgelaufen, und jetzt haben wir die Bescherung.«
    »Nein, ich war sehr vorsichtig. Ich bin nur ein bißchen sauer.«
    »Warum?«
    »Ich habe Nancy angerufen, um ihr frohe Ostern zu wünschen, und habe eine Flut von Beschimpfungen über mich ergehen lassen müssen.«
    »Wie garstig von ihr. Was um Himmels willen hatte sie dir denn vorzuwerfen?«
    »Oh, alles mögliche. Sie scheint mich für senil zu halten. Ich hätte sie als Kind vernachlässigt, und ich sei in meinen alten Tagen leichtsinnig und verschwenderisch geworden. Ich sei geheimnistuerisch und unbedacht in der Wahl meiner Freunde. Ich glaube, es nagt schon lange an ihr, und unsere Reise hierher war nur der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Schleusen haben sich geöffnet, und ich war das nichtsahnende Opfer.« Sie lächelte. »Na ja. Ehe man an etwas erstickt, soll man es sich von der Seele reden, wie Papa immer sagte.«
    Antonia blieb empört. »Wie konnte sie dich bloß so aufregen?«
    »Ich habe nicht zugelassen, daß sie mich aufregt. Ich bin statt dessen einfach wütend geworden. Das ist viel gesünder. Außerdem habe ich beschlossen, die Sache von der komischen Seite zu sehen, und mir

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