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Die Muschelsucher

Die Muschelsucher

Titel: Die Muschelsucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosamunde Pilcher
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weiß, daß du es anders gemeint hast.«
    »Es ist. « Nancy suchte nach Worten. »Es ist, als hättest du etwas gesucht, um uns weh zu tun. Als hättest du etwas gegen uns.«
    »O Nancy.«
    »Und warum ist es immer Olivia, der du alles erzählst, warum wendest du dich nie an mich?«
    »Vielleicht liegt es daran, daß es dir immer so schwerzufallen scheint, irgend etwas von dem zu verstehen, was ich tue.«
    »Wie kann ich dich verstehen, wenn du dich so exzentrisch benimmst und mich nie ins Vertrauen ziehst. und mich wie eine dumme Gans behandelst? Du hattest immer nur Augen für Olivia. Du hast Olivia immer geliebt. Schon als wir klein waren, hast du nur Augen für Olivia gehabt, die gescheite und lustige Olivia. Du hast nie versucht, mich zu verstehen. Wenn Großmutter Keeling nicht gewesen wäre.«
    Sie hatte den Punkt erreicht, an dem sie vor Selbstmitleid zerfloß und bereit war, sich an jedes vermeintliche Unrecht zu erinnern, das ihr in all den Jahren zugefügt worden war. Das Gespräch hatte Penelope mitgenommen, und sie wurde sich plötzlich bewußt, daß sie nicht mehr verkraften konnte. Sie hatte bereits zuviel gehört, und dieses infantile Gejammer einer dreiundvierzigjährigen Frau war mehr, als sie ertragen konnte.
    Sie sagte: »Nancy, ich denke, wir sollten das Gespräch beenden.«
    ».Ich weiß nicht, was ich ohne Großmutter Keeling gemacht hätte. Das Leben war nur deshalb erträglich, weil es sie gab.«
    »Auf Wiedersehen, Nancy.«
    »Weil du nie Zeit für mich gehabt hast. Und du hast mir nie etwas gegeben, und.« Penelope legte auf, ohne das Ende des Satzes abzuwarten. Die zornige, schrille Stimme ihrer Tochter verstummte endlich. Wie immer nach diesen leidigen Auseinandersetzungen fing ihr Herz an zu jagen. Sie suchte nach ihren Pillen, nahm zwei, schluckte sie mit Wasser hinunter und legte sich mit geschlossenen Augen auf die Daunenkissen zurück. Sie dachte daran, einfach nachzugeben. Sie fühlte sich wie ausgelaugt und war einen Moment lang mehr als bereit, sich von der Erschöpfung, sogar von Tränen übermannen zu lassen. Aber sie würde sich nicht von Nancy aus der Fassung bringen lassen. Sie würde nicht weinen. Als ihr Herz sich nach einer Weile beruhigt hatte, schlug sie die Decke zur Seite und stand auf. Sie hatte einen leichten und luftigen Morgenmantel an, und ihr langes Haar hing lose herunter. Sie ging zum Frisiertisch, setzte sich und betrachtete ohne große Befriedigung ihr Bild im Spiegel. Dann griff sie nach der Haarbürste und fing an, sich mit langen, langsamen und beruhigenden Bewegungen die Haare zu bürsten.
    Du hattest immer nur Augen für Olivia. Du hast Olivia immer geliebt.
    Das stimmte. Von dem Augenblick an, als sie zur Welt gekommen war und sie das winzige Wesen mit dem dunklen Haarflaum und der zu großen Nase zum erstenmal erblickt hatte, hatte sie dieses Gefühl der Verbundenheit empfunden, das sich nicht mit Worten beschreiben ließ. Olivia war wegen Richard etwas Besonderes. Das war alles. Sie hatte sie nie mehr geliebt als Nancy und Noel. Sie hatte alle ihre Kinder geliebt. Sie hatte jedes von ihnen uneingeschränkt geliebt, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Wie sie festgestellt hatte, hatte Liebe die erstaunliche Eigenschaft, sich zu vervielfachen, sich zu verdoppeln und zu verdreifachen, so daß jedesmal, wenn ein neues Kind kam, mehr als genug für sie alle da war. Und Nancy, ihr erstes Kind, hatte mehr als ihren normalen Anteil an Liebe und Zuwendung gehabt. Sie dachte an die kleine Nancy, die so robust und gewinnend war, wie sie auf ihren kurzen dicken Beinen im Garten von Cam Cottage herumwatschelte. Die Hühner jagte oder die kleine Schubkarre schob, die Ernie für sie gebastelt hatte. Die von Doris gehätschelt und verwöhnt wurde und immerfort von liebevollen Armen und lächelnden Gesichtern umgeben war. Was war aus dem kleinen Mädchen geworden? War es wirklich möglich, daß Nancy keine Erinnerung an jene frühen Tage hatte?
    Leider schien es so zu sein. Du hast mir nie etwas gegeben.
    Das stimmte nicht. Sie wußte, daß es nicht stimmte. Sie hatte Nancy das gegeben, was sie allen ihren Kindern gegeben hatte. Ein Zuhause, Sicherheit, Geborgenheit, Trost, Verständnis, einen Platz, wo sie mit ihren Freundinnen hingehen konnte, eine massive Haustür, die sie vor den Gefahren der Außenwelt schützte. Sie dachte an das große Souterrain in der Oakley Street, an den Geruch von Knoblauch und Kräutern, die Wärme des großen Herdes und das Feuer

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