Die Muschelsucher
sehr schicken schwarzen Tuchmantel, Louise, die Tochter von Charles und Chantal Rainier und eine der ältesten Freundinnen Penelopes, die die weite Reise von Paris unternommen hatte, um am Trauergottesdienst teilzunehmen. Louise sah auf, fing ihren Blick auf und lächelte. Olivia erwiderte das Lächeln und war froh und zugleich bewegt, daß sie hier war.
Die ersten Orgelakkorde erfüllten das Kircheninnere. Mrs. Tillingham hatte ihr Versprechen erfüllt und spielte. Die Orgel der Kirche von Temple Pudley war kein erstklassiges Instrument, denn sie klang etwas kurzatmig und keuchend wie ein alter Mann, aber nicht einmal diese Mängel konnten den Glanz der Kleinen Nachtmusik trüben. Mozart. Mamas Lieblingskomponist. Hatte Mrs. Tillingham es gewußt, oder war sie einfach einer glücklichen Eingebung gefolgt?
Sie sah die alte Rose Pilkington, die auf die Neunzig zuging, sich aber mit ihrem schwarzen Samtcape und einem violetten Strohhut, der aus einer längst vergangenen Epoche zu stammen schien, so kerzengerade hielt wie eh und je. Ihr in tausend Falten gerunzeltes Gesicht war gefaßt, und der Blick ihrer alten Augen sagte, daß sie sich friedlich mit allem abfand, was geschehen war und noch geschehen würde. Sie sah Rose an und schämte sich unwillkürlich ihrer Feigheit. Sie schaute wieder nach vorn, lauschte der Musik, betrachtete endlich Mamas Sarg. Aber sie konnte ihn kaum sehen, weil er über und über mit Blumen bedeckt war. Von hinten, durch die offene Tür, waren Schritte zu vernehmen, und dann erhob sich leises Gemurmel. Jemand kam schnell den Gang heraufgeschritten, und Olivia drehte sich um und sah, wie Antonia und Danus sich auf die freie Bank hinter ihr setzten. »Ihr habt es geschafft. «
Antonia beugte sich vor. Sie hatte sich offensichtlich gefaßt, und die Farbe war in ihre Wangen zurückgekehrt. »Es tut mir leid, daß wir so spät kommen«, flüsterte sie. »Gerade noch rechtzeitig.«
» Olivia. das ist Danus.« Olivia lächelte. »Ich weiß«, sagte sie.
Über ihnen, weit oben, schlug die Kirchturmuhr drei. Nach der Gedenkpredigt sprach Mr. Tillingham ein Gebet und forderte die Gemeinde auf, den Choral zu singen. Mrs. Tillingham spielte die ersten Takte, und die Besucher erhoben sich, das aufgeschlagene Gesangbuch in der Hand.
Für all die Heiligen, die ruhen nun in dir,
Die dich, o Herr, vor aller Welt gepriesen,
Ihr Name sei für alle Zeit geheiligt hier
Halleluja.
Die Bewohner von Temple Pudley waren mit dem Lied vertraut, der Klang ihrer Stimmen schwoll mächtig an und füllte den hohen Raum bis hinauf zu dem alten Gebälk. Es war vielleicht nicht der passendste Choral für einen Trauergottesdienst, aber Olivia hatte ihn ausgesucht, weil sie wußte, daß er der einzige war, den Mama wirklich gemocht hatte. Sie durfte nichts von dem vergessen, was Mama wirklich gemocht hatte. Nicht nur schöne Musik und Hausbesuch und Blumen und lange Telefongespräche - sie hatte die Gabe gehabt, einen oft in eben dem Moment anzurufen, in dem man sich danach sehnte, ihre Stimme zu hören. Sondern auch andere Dinge, Dinge wie Lachen, Mut und Toleranz. Und Liebe. Olivia wußte, daß sie diese Dinge nicht aus ihrem Leben lassen durfte, nur weil Mama nicht mehr war. Wenn sie es tat, würden die liebenswerten Seiten ihrer Persönlichkeit verkümmern und sterben, und sie würde nichts behalten als ihre scharfe Intelligenz und ihren brennenden, nie erlahmenden Ehrgeiz. Olivia hatte nie die Sicherheit und Geborgenheit der Ehe erwogen, aber sie brauchte Männer - wenn nicht als Liebhaber, dann als Freunde. Um Liebe zu empfangen, mußte sie eine Frau bleiben, die bereit war, Liebe zu schenken, wenn sie nicht eine verbitterte und einsame alte Person mit einer spitzen Zunge werden wollte, die niemanden auf der Welt hatte.
Aber die nächsten Monate würden nicht leicht sein. Solange Mama am Leben gewesen war, hatte sie gewußt, daß irgendein kleiner Teil von ihr ein Kind geblieben war, das gehätschelt und geliebt wurde. Vielleicht wurde man erst dann richtig erwachsen, wenn die Mutter gestorben war.
Ihr Fels, ihr Hort und ihre Kraft warst du, o Gott,
Du warst im Kampf ihr Führer und in aller Not.
Sie sang. Laut. Nicht weil sie eine besonders kräftige Stimme hatte, sondern weil es ihr mehr Mut gab, wie dem Kind, das im Dunkeln vor sich hin singt.
Du, in des Dunkels Angst, ihr eines wahres Licht.
Halleluja.
Nancy war in Tränen ausgebrochen. Sie hatte sie während der Predigt tapfer zurückgehalten, aber
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