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Die Muschelsucher

Die Muschelsucher

Titel: Die Muschelsucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosamunde Pilcher
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nun war es ihr plötzlich gleich, und sie ließ ihnen freien Lauf. Ihr Schluchzen war recht geräuschvoll, und einigen Anwesenden war es sicher peinlich, aber sie konnte nichts anderes dagegen tun, als sich dann und wann hörbar zu schneuzen. Bald würde sie alle Kleenex aufgebraucht haben, die sie in weiser Voraussicht in ihre Handtasche gesteckt hatte. Sie wünschte mehr als alles andere, sie hätte Mutter noch einmal gesehen oder wenigstens mit ihr gesprochen. nach jenem letzten, schrecklichen Telefongespräch, als sie aus Cornwall angerufen hatte, um ihnen frohe Ostern zu wünschen. Aber sie hatte sich höchst sonderbar benommen, und gewisse Dinge hatten zweifellos gesagt werden müssen, um alles klarzustellen. Doch dann hatte sie einfach aufgelegt, und ehe sie, Nancy, die Zeit oder die Gelegenheit gehabt hatte, sich mit ihr zu versöhnen, war sie gestorben. Nancy machte sich keine Vorwürfe. Aber als sie gestern und vorgestern mitten in der Nacht aufgewacht war, hatte sie sich merkwürdig allein gefühlt im Dunkeln, und sie hatte beide Male geweint. Jetzt weinte sie wieder, ohne sich etwas daraus zu machen, daß andere Leute es sahen, und ohne sich darum zu kümmern, daß sie Zeugen ihres Kummers wurden. Der Kummer war offensichtlich, und sie schämte sich seiner nicht. Die Tränen flossen, und sie bemühte sich nicht, ihnen Einhalt zu gebieten. Sie rannen wie Wasser und verdampften in der harten, heißen Asche ihrer uneingestandenen Schuld.
    Mögen die treuen, tapfren Krieger heut
    So kämpfen wie die Heiligen aus alter Zeit,
    Die goldene Siegeskrone zu erringen.
    Halleluja.
    Noel sang nicht mit und hatte nicht einmal sein Gesangbuch aufgeschlagen. Er stand regungslos, eine Hand in der Tasche und die andere auf der Holzbrüstung vor sich, am Ende der Bank. Sein Gesicht war ausdruckslos, und kein Mensch konnte erraten, was hinter seiner Stirn vor sich ging.
    Oh, gesegnete Kommunion! Göttliche Gemeinschaft!
    Angesichts unserer Schwäche glänzt Ihr in Eurem Ruhm.
    Mrs. Plackett, die in einer der letzten Bänke stand, erhob in freudiger Andacht die Stimme. Sie hielt das Gesangbuch auffallend hoch, und ihr Busen wogte. Es war eine wunderschöne Trauerfeier. Musik, Blumen und nun der von allen gesungene Choral. genau das, was Mrs. Keeling Freude gemacht hätte. Und die Zahl der Besucher war unbedingt befriedigend. Das ganze Dorf war gekommen. Die Sawcombes und Mr. und Mrs. Hodgkins vom Sudeley Arms. Mr. Kitson, der Leiter der Bankfiliale von Pudley, und Tom Hadley vom Zeitungsladen und ein Dutzend oder mehr andere. Die Familie hielt sich tapfer, bis auf Mrs. Chamberlain, die so laut schluchzte, daß alle es hören konnten. Mrs. Plackett hielt nichts davon, Emotionen zu zeigen. Behalt deine Gefühle für dich, war immer ihre Devise gewesen. Das war einer der Gründe dafür, daß sie und Mrs. Keeling immer so gute Freundinnen gewesen waren. Ja, Mrs. Keeling war eine wahre Freundin gewesen. Sie würde eine Lücke in ihrem Leben hinterlassen. Mrs. Plackett sah sich in der überfüllten kleinen Kirche um und stellte ein paar überschlägige Berechnungen an. Wie viele von den Trauergästen würden zum Tee nach Podmore’s Thatch kommen? Vierzig? Vielleicht fünfundvierzig. Hoffentlich dachte Mr. Plackett daran, rechtzeitig Wasser aufzusetzen.
    Doch in Dir sind alle eins, denn alle sind die Deinen.
    Halleluja.
    Sie hoffte, der Sandkuchen würde reichen.

Gegen Viertel nach fünf gingen die letzten Gäste, die zum Tee nach Podmore’s Thatch gekommen waren. Olivia begleitete sie zur Tür, sah zu, wie der letzte Wagen hinter dem Tor auf die Straße einbog, drehte sich erleichtert um und ging in die Küche, wo bereits hektische Betriebsamkeit herrschte. Mr. Plackett und Danus, die die letzte halbe Stunde damit verbracht hatten, den Zufahrtsverkehr zu dirigieren und eine Reihe ungeschickt abgestellter Autos woanders zu parken, halfen Mrs. Plackett und Antonia beim Abräumen und Spülen des Geschirrs. Mrs. Plackett stand am Spülbecken und hatte die Arme bis zu den Ellbogen im Wasser. Mr. Plackett hielt sich gehorsam an ihrer Seite und polierte gerade die silberne Teekanne. Die Spülmaschine summte und rumpelte, Danus kam mit einer neuen Tablettladung Tassen und Untertassen zur Tür herein, und Antonia holte den Staubsauger aus dem Besenschrank. Olivia kam sich überflüssig und unnütz vor. »Was soll ich tun?« fragte sie Mrs. Plackett.
    »Nichts.« Mrs. Plackett wandte sich nicht vom Spülbecken ab, und ihre geröteten

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