Die Muschelsucher
Kraft, die mich treibt und die zu stark ist, um mich dagegen zu wehren. Ich brauche den ständigen Kampf, den ich in meinem Beruf habe, den Kampf mit Themen, Entscheidungen, Terminen und alldem. Ich brauche den Druck, den unaufhörlichen Adrenalinschub.«
»Macht es dich auch glücklich?«
»Ach, Cosmo. Glück! Was ist das? Die Blaue Blume. Eine Art ewiger Regenbogen? Nein, ich nehme an, es. es ist letzten Endes so: Wenn ich arbeite, bin ich nie ganz unglücklich, und wenn ich nicht arbeite, bin ich nie ganz glücklich. Macht das einen Sinn?«
»Dann bist du hier nie ganz glücklich gewesen?«
»Die Zeit mit dir ist etwas anderes, ich habe so was noch nie erlebt. Es ist wie ein Traum, den ich der Wirklichkeit gestohlen habe. Und ich werde nie aufhören, dir dafür zu danken, daß du mir etwas gegeben hast, was mir nie jemand wegnehmen kann. Eine gute Zeit. Im wahrsten Sinn des Wortes. Eine gute Zeit. Aber ein Traum kann nicht ewig dauern. Irgendwann muß man aufwachen. Ich werde bestimmt bald unruhig werden und wahrscheinlich auch reizbar. Und du wirst dich fragen, was bloß mit mir los ist, und ich werde mich das gleiche fragen. Ich werde das Problem von allen Seiten betrachten und analysieren, und ich werde zu dem Ergebnis kommen, daß es Zeit ist, nach London zurückzukehren und wieder einzusteigen und mit meinem Leben weiterzumachen.«
»Und wann wird das sein?«
»Vielleicht in einem Monat. Im März.«
»Du hast gesagt, du würdest ein Jahr bleiben. Das wären erst zehn Monate.«
»Ich weiß. Aber Antonia kommt im April wieder. Ich finde, ich sollte bis dahin fort sein.«
»Ich dachte, ihr wärt gern zusammen?«
»Das stimmt. Deshalb gehe ich ja. Sie darf nicht damit rechnen, daß ich noch hier sein werde. Ich darf nicht wichtig für sie werden. Außerdem gibt es eine Menge Probleme, die auf mich warten. Einen neuen Job zu suchen, ist nicht das geringste.«
»Besteht nicht die Möglichkeit, daß du deine alte Stelle wiederbekommst? «
»Ich denke, ja. Wenn nicht, werde ich mir eine bessere suchen.«
»Du bist sehr selbstsicher.«
»Ich muß es sein.«
Er seufzte tief und warf dann mit einer ungeduldigen Geste die halb gerauchte Zigarre ins Feuer. Er sagte: »Und wenn ich dich bäte, mich zu heiraten. Würdest du dann bleiben?« Sie sagte verzagt: »Ach, Cosmo.«
»Weißt du, es ist schwer, mir eine Zukunft ohne dich vorzustellen.«
»Ich glaube, du wärst der einzige Mann, den ich heiraten könnte«, sagte sie. »Aber ich habe es dir doch gesagt, an dem Tag, als ich nach Ca’n D’alt kam. Ich wollte nie heiraten und Kinder haben. Ich liebe Menschen. Sie faszinieren mich, aber ich brauche auch meine Privatsphäre. Um ich selbst zu sein. Um allein zu leben.« Er sagte: »Ich liebe dich.«
Sie ging die wenigen Schritte, die sie von ihm trennten, faßte ihn um die Taille und legte den Kopf an seine Schulter. Durch seinen Pullover und sein Hemd konnte sie sein Herz schlagen hören. Sie sagte: »Ich habe Tee gemacht, und wir haben ihn nicht angerührt, und jetzt ist er bestimmt kalt.«
»Ich weiß.« Sie fühlte, wie seine Hand ihr Haar streichelte. »Wirst du wieder nach Ibiza kommen?«
»Ich glaube nicht.«
»Wirst du mir schreiben? Mit mir in Verbindung bleiben?«
»Ich werde dir Weihnachtskarten mit verschneiten Tannen schicken.«
Er nahm ihren Kopf zwischen die Hände und hob ihr Gesicht zu seinem. Der Ausdruck in seinen hellblauen Augen war unendlich traurig.
»Jetzt weiß ich es«, sagte er. »Was weißt du?«
»Daß ich dich für immer verlieren werde.«
Während Olivia ihrer Redakteurin an jenem kalten und dunklen Freitag im März gegen halb vier Uhr mit Kündigung drohte und Nancy gedankenverloren bei Harrods herumspazierte, räumte ihr Bruder Noel in den hypermodern ausgestatteten Geschäftsräumen der Werbeagentur Wenborn & Weinburg seinen Schreibtisch auf und fuhr nach Hause.
Die Geschäftszeit dauerte bis halb sechs, aber er arbeitete nun schon fünf Jahre bei der Firma und betrachtete es als sein gutes Recht, dann und wann früher Feierabend zu machen. Seine Kollegen hatten sich inzwischen daran gewöhnt und nahmen nicht weiter Notiz davon, und wenn er auf dem Weg zum Fahrstuhl zufällig einem der Seniorpartner des Unternehmens in die Arme lief, hatte er die immer gleiche Entschuldigung parat: Er fühle sich nicht wohl, wahrscheinlich sei eine Grippe im Anzug, und er müsse nach Hause. Er traf keinen der Seniorpartner, und er wollte nicht nach Hause und ins Bett, er wollte
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