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Die Muschelsucher

Die Muschelsucher

Titel: Die Muschelsucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosamunde Pilcher
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jeden Grund herausfordernd zu kreischen. Unten am Hügel stand die Kirche. Die Glocke läutete zum Morgengottesdienst, und an der Straße sammelten sich viel mehr Leute als sonst, um den Kiesweg hinaufzugehen und hinter der massiven Doppeltür aus Eiche zu verschwinden. Alle waren dunkel gekleidet, hatten eine Kopfbedeckung auf und machten ein ernstes Gesicht, als sie sich gemessenen Schritts näherten. Der ganze Ort schien in das Gotteshaus zu strömen. Niemand sagte guten Morgen, und man sah kaum jemanden lächeln.
    Es war fünf Minuten vor elf. Es war Ebbe, und die mit Leinen an der Kaimauer festgemachten Fischerboote dümpelten träge vor sich hin. Alles wirkte sonderbar verlassen. Sie erblickte nur eine Gruppe von Kindern, die mit einer Heringskiste spielten, und einen alten Mann, der an der anderen Seite des Hafens an seinem Boot arbeitete. Seine Hammerschläge hallten über das Wasser. Die Kirchturmuhr begann die Stunde zu schlagen, und die auf der Turmspitze hockenden Möwen hoben sich unter zornigem Geschrei in einer Wolke von weißen Flügeln. Penelope ging langsam, die Hände in den Taschen ihrer Strickjacke, weiter, und die frische Brise wehte ihr immer wieder dunkle Haarsträhnen ins Gesicht. Unvermittelt wurde ihr bewußt, daß sie auf einmal ganz alleine war.
    Jetzt war kein Mensch mehr zu sehen, und als sie sich vom Hafen abwandte und eine steile Treppe zur Straße hinaufzugehen begann, hörte sie durch offene Fenster die letzten Schläge des Big Ben. Sie hörte, wie die Stimme zu sprechen begann. Stellte sich vor, wie die Familien in den Häusern vor dem Radio saßen, ganz dicht nebeneinander, um Trost aus der Nähe der anderen zu schöpfen. Nun war sie in Downalong, dem alten Teil des Orts, und schritt durch das Gewirr kopfsteingepflasterter Gassen und winziger Plätze zum nördlichen Strand. Sie konnte das Geräusch der Wellen hören, die sich am Ufer brachen, und merkte, daß der Wind hier heftiger wehte als eben am Hafen. Die Böen zerrten am Saum ihres Baumwollkleids und zerzausten ihr Haar. Sie sah den kleinen Laden von Mrs. Thomas, der eine Stunde lang zum Verkauf der Sonntagszeitungen geöffnet war. Die Zeitungen steckten in Gestellen vor der Tür, und die Schlagzeilen waren hoch und ernst wie Grabsteine. Sie hatte ein paar Münzen in der Tasche, und ihr war ein bißchen flau vor bangem Erwarten, so daß sie hineinging und sich für zwei Pence einen Riegel Cadbury-Pfefferminzschokolade kaufte. »Kleiner Sonntagsspaziergang, ja?« fragte Mrs. Thomas. »Ja. Ich hole Papa ab. Er ist im Atelier.«
    »Der schönste Platz an einem solchen Morgen. Draußen, weg von den anderen.«
    »Ja.«
    »Es ist also soweit. Mr. Chamberlain sagt, wir sind mit den verflixten Deutschen im Krieg.« Mrs. Thomas war sechzig Jahre alt. Sie hatte schon einen schrecklichen Krieg miterlebt, genau wie Penelopes Vater und Millionen anderer unschuldiger Menschen überall in Europa. Ihr Mann war 1916 gefallen, und ihr Sohn Stephen war bereits als Gemeiner der Leichten Infanterie unter dem Kommando des Herzogs von Cornwall einberufen worden. »Ich nehme an, es mußte so kommen. Wir konnten nicht weiter dasitzen und zusehen. Nicht, wenn die armen Polen zu Tausenden niedergemäht werden.«
    »Nein.« Penelope nahm ihre Schokolade. »Sag deinem Vater einen schönen Gruß. Geht es ihm gut?«
    »Ja, Mrs. Thomas.«
    »Dann auf Wiedersehen.«
    »Auf Wiedersehen.«
    Draußen auf der Straße fror sie plötzlich. Der Wind war noch stärker geworden, und ihr dünnes Kleid und die Strickjacke boten nicht genügend Schutz. Sie wickelte die Schokolade aus und fing an, sie zu essen. Krieg. Sie blickte zum Himmel hoch und rechnete halb damit, jeden Augenblick Geschwader von Bombern zu sehen, wie in der Wochenschau, die von Deutschland aufgebrochen waren, um ihre tödliche Last über Polen abzuwerfen. Und nun hier, über ihnen. Aber sie sah nur Wolken, die der Wind vor sich her trieb. Krieg. Es war ein merkwürdiges Wort. Wie Tod. Je öfter man es sagte, um so unverständlicher wurde es. Ihre Schokolade essend, ging sie die schmale Straße mit dem Kopfsteinpflaster, die zum Atelier führte, weiter hinauf, um ihrem Vater zu sagen, daß er nicht mehr in den Pub gehen solle und daß nun wirklich Krieg sei. Das Atelier war ein alter zugiger Netzeschuppen, ein einziger sehr hoher Raum mit einem weiten Fenster nach Norden zum Strand und zum Meer. Ihr Vater hatte vor langer Zeit einen großen Ofen installieren lassen, mit einem langen Rohr, das oben

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