Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Muschelsucher

Die Muschelsucher

Titel: Die Muschelsucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosamunde Pilcher
Vom Netzwerk:
zum Dach hinausging, aber auch wenn darin ein Feuer prasselte, wurde es nicht richtig warm.
    Auch jetzt war es nicht warm.
    Lawrence Stern hatte über zehn Jahre nicht mehr gearbeitet, aber seine Utensilien lagen oder standen herum, als wolle er jeden Moment wieder anfangen zu malen. Die Staffeleien und Leinwände, die halb aufgebrauchten Farbtuben, die mit Schichten längst getrockneter Farbproben bedeckten Paletten.
    Auf dem mit einem Tuch drapierten Podest stand der Stuhl des Modells, und auf einem wackeligen Tisch lag ein Stoß alter Nummern von The Studio neben dem Gipsabdruck eines Männerkopfes. Der Geruch von Ölfarbe und Terpentin vermischte sich mit dem der salzhaltigen Brise, die durch das geöffnete Fenster drang.
    Sie sah die Surfbretter, die in einer Ecke aufgestapelt waren, und ein gestreiftes Badetuch, das jemand über einen Stuhl geworfen und dort liegengelassen hatte. Sie fragte sich, ob es einen neuen Sommer geben würde, ob sie jemals wieder benutzt werden würden.
    Der Luftzug schlug die Tür hinter ihr zu. Er wandte den Kopf. Er saß mit übergeschlagenen Beinen, einen Ellbogen auf das Fensterbrett stützend, auf der Bank längs der Fensternische. Er hatte die Seevögel beobachtet, die Wolken, das türkisfarbene und azurblaue Meer, die Wellen, die sich in nicht endender Folge am Ufer brachen. »Papa.«
    Er war vierundsiebzig Jahre alt. Großgewachsen und distinguiert, ein gefurchtes, sonnengebräuntes Gesicht und glänzende, klarblickende blaue Augen. Seine Kleidung war unkonventionell und jugendlich. Verblichene rote Segeltuchhosen, ein altes grünes Cordjackett und anstelle einer Krawatte ein getupftes Halstuch. Nur sein schneeweißes und nach der Mode einer vergangenen Zeit lang getragenes Haar verriet sein Alter. Das Haar und seine knotigen, halb verkrüppelten Hände, Opfer der Arthritis, die seine Karriere vorzeitig beendet hatte. »Papa.«
    Sein Blick war düster, als erkenne er sie nicht, als wäre sie eine Fremde, eine Botin, die eine gefürchtete Nachricht überbrachte, was sie ja auch tat. Dann lächelte er unvermittelt und hob in einer vertrauten liebevollen Begrüßungsgeste den Arm. »Liebling.«
    Sie trat neben ihn. Unter ihren Füßen knirschte der hereingewehte Sand, der die unebenen Holzdielen bedeckte, und sie dachte zuerst, jemand habe eine Tüte mit feinem Zucker verschüttet. Er zog sie an sich.
    »Was ißt du da?«
    »Pfefferminzschokolade.«
    »Du wirst dir den Appetit verderben.«
    »Das sagst du immer.« Sie löste sich von ihm. »Möchtest du ein Stück?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank.« Sie steckte den Rest der Tafel in die Jackentasche. Sie sagte: »Es ist jetzt Krieg.« Er nickte. »Mrs. Thomas hat es mir gesagt.«
    »Ich weiß. Ich wußte es.«
    »Sophie macht Hühnercassoulet. Sie hat gesagt, ich soll dich nicht auf ein Bier ins Sliding Tackle gehen lassen. Sie hat gesagt, ich soll dich auf dem schnellsten Weg nach Haus bringen.«
    »Dann gehen wir wohl besser.«
    Aber er traf keine Anstalten aufzustehen. Sie schloß die Fenster und verriegelte sie. Als sie es getan hatte, war das Geräusch der Brandung nicht mehr so laut. Sein Hut lag auf dem Boden. Sie hob ihn auf und reichte ihn ihm, und er setzte ihn auf und erhob sich. Sie nahm seinen Arm, und sie traten den langen Rückweg nach Haus an.
    Cam Cottage, ein kleines, quadratisches weißes Haus mit einem von einer hohen Mauer umschlossenen Garten, war oben auf dem Hügel über dem Ort. Wenn man durch die Pforte in der Mauer eintrat und sie hinter sich zumachte, glaubte man an einem verborgenen Platz zu sein, wo einen nichts, nicht einmal der Wind erreichen konnte. Das Gras war jetzt, gegen Ende des Sommers, noch sehr grün, und auf Sophies Rabatten blühten Heidekrautastern, Löwenmaul und Dahlien. Eine Klematis, die jeden Mai eine verschwenderische Fülle von blaßlila Blüten hervorbrachte, und rosa blühende Klettergeranien rankten an der Fassade des Hauses empor. Hinter einer Ligusterhecke war ein kleiner Gemüsegarten, und an der Rückseite des Hauses gab es einen Hühnerhof mit einem winzigen Tümpel, wo Sophie ihre Hennen und Enten hielt. Sie war im Garten, wartete auf sie und nutzte die Zeit, um einen Strauß Dahlien zu pflücken. Als sie die Pforte ins Schloß fallen hörte, richtete sie sich auf und kam ihnen entgegen, und mit ihrer Hose, den Bastschuhen und dem blauweiß gestreiften Pullover sah sie aus wie ein kleiner Junge. Ihr dunkles Haar war sehr kurz geschnitten, was den

Weitere Kostenlose Bücher