Die Muschelsucher
schlanken, sonnenbraunen Hals und die schöne Form ihres Kopfes unterstrich. Ihre Augen waren dunkel, groß und schimmernd. Alle Leute sagten, sie seien das Schönste an ihr, bis sie lächelte, dann waren sie nicht mehr so sicher, ob es nicht noch etwas Schöneres gab.
Sie war die Frau von Lawrence und die Mutter von Penelope. Sie war Französin. Ihr Vater, Philippe Charlroux, und Lawrence waren etwa im selben Alter gewesen und hatten in der sorglosen Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ein gemeinsames Atelier in Paris gehabt, und Lawrence hatte Sophie schon als ganz kleines Mädchen gekannt, das in den Tuilerien spielte und seinen Vater und dessen Freunde manchmal zu den Künstlercafés begleitete, wo die Männer ihren Aperitif nahmen und mit hübschen jungen Pariserinnen schäkerten. Sie standen einander alle sehr nahe und hätten sich nie träumen lassen, daß dieses schöne Leben jemals aufhören könnte, aber der Krieg hatte nicht nur sie und ihre Familien auseinandergerissen, sondern auch ihre Länder, ganz Europa, ihre Welt. Sie verloren sich aus den Augen. 1918 war Lawrence über fünfzig. Da er für den aktiven Dienst an der Front zu alt war, hatte er vier schreckliche Jahre lang in Frankreich eine Feldambulanz gefahren. Dann war er von einem Granatsplitter ins Bein getroffen und heimgeschickt worden. Er war immerhin am Leben geblieben. Andere hatten nicht soviel Glück. Daß Philippe gefallen war, wußte er bereits. Er wußte aber nicht, was aus seiner Frau und seiner kleinen Tochter geworden war. Als der Krieg vorbei war, kehrte er nach Paris zurück, um sie zu suchen, doch es war hoffnungslos. Paris war eine Stadt der Trauer geworden, wo die Leute froren und Hunger litten. Jede zweite Frau war in Schwarz gekleidet, und die Straßen der Stadt, die ihn immer mit Freude erfüllt hatten, schienen ihren Zauber eingebüßt zu haben. Er fuhr zurück nach London, in das alte Haus der Familie in der Oakley Street. Seine Eltern waren inzwischen tot, und das Haus gehörte ihm, aber es war viel zu groß für einen Junggesellen, viel zu umständlich zu bewirtschaften. Er löste das Problem, indem er sich auf das Souterrain und das Erdgeschoß beschränkte und die Zimmer im ersten Stock und im Dachgeschoß an Leute vermietete, die ein Dach über dem Kopf brauchten und ein wenig Miete zahlen konnten. Sein Atelier war in dem großen Garten hinter dem Haus. Er beschloß, es wieder zu benutzen, schaffte das Gerumpel, das sich inzwischen dort angesammelt hatte, hinaus und griff, die Erinnerungen an den Krieg entschlossen beiseite drängend, wieder zu Pinsel und Palette, um an sein früheres Leben anzuknüpfen. Es fiel ihm schwer. Als er eines Tages mit einer schwierigen Komposition kämpfte, kam einer seiner Untermieter und sagte, eine junge Dame wollte ihn sprechen. Lawrence war sehr ungehalten, denn ganz abgesehen davon, daß ihn das Bild auf der Staffelei zur Verzweiflung brachte, haßte er es, bei der Arbeit gestört zu werden. Wütend warf er den Pinsel hin, wischte sich die Hände an einem Lappen ab und marschierte durch den Garten zur Küchentür, um zu sehen, was die Besucherin von ihm wollte. Am Küchenherd stand ein sehr junges Mädchen, das die Hände über der Platte wärmte, als sei es innerlich starr vor Kälte. Er erkannte sie nicht. Sie war sehr dünn, hatte das dunkle Haar zu einem Knoten gesteckt und trug einen fadenscheinigen alten Mantel, unter dem der Saum ihres Rockes hervorguckte. Ihre Schuhe waren schäbig, und sie sah aus wie ein verwahrlostes Kind, das auf der ganzen Welt keine Zuflucht mehr hatte. Sie sagte: »Lawrence!«
Etwas an ihrer Stimme kam ihm vertraut vor. Er ging zu ihr, legte die Hand unter ihr Kinn und drehte ihr Gesicht zum Fenster ins Licht. »Sophie!«
Er konnte es kaum glauben, aber sie sagte: »Ja, ich bin es.« Sie war nach England gekommen, um ihn zu suchen. Sie war allein. Er war der beste Freund ihres Vaters gewesen. »Wenn mir etwas passiert«, hatte Philippe ihr gesagt, »such Lawrence Stern und geh zu ihm. Er wird dir helfen.« Und nun war Philippe tot, und ihre Mutter war ebenfalls gestorben, ein Opfer der Grippeepidemie, die Europa nach dem Krieg heimgesucht hatte.
»Ich war in Paris und habe euch gesucht«, berichtete Lawrence ihr. »Wo seid ihr gewesen?«
» Mutter war schon tot, und ich war bei ihrer Schwester in Lyon.«
»Warum bist du nicht dort geblieben?«
»Weil ich Sie finden wollte.«
Sie blieb. Wie er zugeben mußte, war sie zu einem sehr gelegenen Zeitpunkt
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