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Die Muse des Mörders (German Edition)

Die Muse des Mörders (German Edition)

Titel: Die Muse des Mörders (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Wedler , Nadine d'Arachart
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hörte immer noch ihren Schrei unter dem Druck seiner Hand. 
    Du hättest sie dir nehmen können.
    Die Erinnerungen waren so frisch wie das Souvenir, das er von ihr hatte und das noch nach ihrem Parfüm duftete. Sein Stern war aber schon wieder ausgehungert, wie ein Raubtier, das mit immer größerer Wut an den Stäben seines Käfigs nagte. Ihm wurde schlecht, er öffnete die Augen und schluckte bittere Galle hinunter. Ein Gesicht starrte ihn aus der gegenüberliegenden Wand an. Die Augen waren pulsierende Tümpel voller Maden und die zerfressenen Lippen legten ein breites skelettiertes Grinsen frei. Er erkannte das Gesicht. Es gehörte dem Mann, dem er gleich begegnen würde. Er wandte sich ab, presste beide Hände auf den Mund und machte ein paar Schritte tiefer in die Gasse hinein, bevor er sich würgend über einen Kanaldeckel erbrach. 
    Sieh mal an, wie erbärmlich du bist.
    »Halt die Klappe«, sagte er und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Er wusste, dass all das, die Fratzen und die Übelkeit und das hohe Fieber, was ihn heute Morgen überkommen und sich bis zum Abend stetig verschlimmert hatte, nur Warnungen waren. Es war nicht lange her, dass es Wochen gedauert hatte, bis sich die Symptome so extrem gesteigert hatten, dass er seinem dunklen Stern ein weiteres Opfer bringen musste. Mittlerweile wurden sie im Verlauf weniger Stunden unerträglich. Sie würden erst abklingen, wenn er getan hatte, was er tun musste. 
    Er ließ sich neben seinem Erbrochenen an der Wand hinuntersinken und tastete nach dem Dolch, den er in der Innentasche seines Mantels verbarg. Die Waffe fühlte sich warm und lebendig an und schien sich unter seinem Griff zu winden. Er fuhr mit den Fingerspitzen über den breitgezogenen metallenen Reichsadler und die Messerscheide, die ihn selbst vor Verletzungen schützte. Die Waffe beruhigte ihn. Warum sollte ihm das Schicksal etwas so Tödliches in die Hände gespielt haben, wenn nicht, um damit zu töten? Der Dolch hatte seinem Großvater gehört, der geprahlt hatte, wie viel Unheil er damit während des Krieges angerichtet hatte.
    Hörst du seine Worte nicht jede Nacht im Traum? Die Feinde haben weiche Herzen, schlüpfrige, aufgedunsene Beutel voller Blut …
    »… und spätestens, wenn es um dein Leben geht, stichst du mit voller Wucht hinein«, wiederholte er die Worte des alten Mannes. Er wusste, dass es hier um sein Leben ging. Wenn er nicht tat, was sein Schicksal verlangte, würde bald nichts mehr von ihm übrig sein. Als Kind hatte er seinen Opa für die vielen Stunden gehasst, in denen er im Keller oder im Wald auf Stoffpuppen einstechen musste. Jetzt war er dankbar für die Übung und die Sicherheit, die ihm das gegeben hatte. 
    Du weißt doch noch, unter der dritten Rippe schräg durch, Junge, so durchstößt du das ganze Herz.
    Er zog die Hand aus der Tasche und richtete sich langsam auf. Die Übelkeit war ein wenig verflogen, was an der nunmehrigen Leere seines Magens liegen konnte. Er atmete ein paar Mal tief durch, bis ihn der süße Abgasduft seiner Heimatstadt beruhigte. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es bald soweit sein würde. Er musste an das Grinsen des Mannes denken, auf den er wartete. Gleich bei ihrer ersten und bisher einzigen Begegnung war er ihm im Gedächtnis geblieben. Freimütig hatte er ihm von seinen nächtlichen Ausflügen in den siebten Bezirk erzählt, bei denen er genau hier vorbeikam. Er hatte ihm ein Foto von einer hübschen Asiatin gezeigt und sie als seine »Liebesdienerin« bezeichnet.
    Es kam oft vor, dass die Menschen, mit denen er zu tun hatte, ihm gegenüber derart offen waren. Er hatte sich lange gefragt, woran das lag. Er wusste, dass er meist freundlich wirkte und Frauen auf ihn standen, doch er hatte begreifen müssen, dass das nicht der Grund war. Dass er selbst rein gar nichts damit zu tun hatte. Es waren die dämonischen Kräfte, die sein Leben lenkten. Sie fuhren wie schwarze Hände aus der Erde und brachten diese Menschen zu ihm. Sie sorgten dafür, dass er von ihnen bekam, was er brauchte. Seit er hinter den dünnen, zerbrechlichen Vorhang der Zivilisation geblickt hatte, war vieles logisch. Krieg, Leid und Tod entwickelten ihre eigene dunkle Anziehungskraft.
    Spar dir die Poesie. Du stehst einfach darauf, wenn ihr warmes Blut über deine Hände fließt. Wenn sie gekriegt haben, was sie verdienen, und du gekriegt hast, was du verdienst. 
    Vorsichtig trat er hinaus auf die Straße, blickte nach rechts und

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