Die Muse des Mörders (German Edition)
die eben noch Augen gewesen waren. Der Ausdruck darin war blankes Entsetzen.
Er wischte den Dolch am Revers des Toten ab, schob ihn zurück in die Messerscheide in seiner Innentasche und richtete sich auf. Erst in diesem Moment bemerkte er die schlanke Gestalt, die reglos, wie zur Salzsäule erstarrt, kaum drei Meter von ihm entfernt im Dunkel der Gasse stand und ihm bei seinem Werk zusah. Er prallte einen Schritt zurück und auch der schemenhafte Zeuge erwachte aus seiner Erstarrung.
Für einen Moment glaubte er, dass jemand einen Spiegel in der Gasse aufgestellt hatte, um ihm einen Streich zu spielen, doch dann flüsterte das Spiegelbild seinen Namen, machte auf dem Absatz kehrt und rannte davon.
22.
Das Gespräch mit dem Bestatter hatte sich als extrem nervenaufreibend erwiesen, aber jetzt, da sie seit Stunden wieder zu Hause war und die Gedanken sie auch mitten in der Nacht noch überspülten wie eine Welle, wünschte sie sich zurück ins Büro des Begräbnisunternehmers.
Madeleine hatte sich an den Computer gesetzt und versuchte, sich durch Schreiben abzulenken, doch sie brachte kein einziges vernünftiges Wort zustande. Immer wieder begann sie einen Satz, nur um ihn gleich darauf zu löschen. So sehr sie sich auch das Hirn zermarterte, »die Essenz der Liebe« konnte sie immer noch nicht benennen. Pauls Briefe geisterten durch ihren Kopf, genau wie die Frage, warum er sich ihr nie offenbart hatte. Hatte er gefürchtet, sie zu verlieren, wenn er sie zu sehr bedrängte? So wie Georg, ihr Bruder, sie verloren hatte? Es hätte ihm doch klar sein müssen, dass sie ihn nie verlassen hätte.
Die Essenz ihrer Liebe ist Offenheit.
Kopfschüttelnd drückte sie die Löschtaste. Was für ein Unsinn. Wollte sie dem armen Paul jetzt auch noch Vorwürfe machen? Schuldbewusst blickte sie auf das Testament, das immer noch ungeöffnet neben ihrem Notebook lag. Bisher hatte sie sich nicht getraut, es zu lesen, aber sie wusste, dass sie es nicht länger aufschieben konnte.
Sie nahm den fein marmorierten Umschlag, riss ihn mit ihrem Brieföffner entlang der Längskante auf, zog das Blatt heraus und faltete es auf. Er hatte das Testament per Hand geschrieben und genau wie die Briefe war es datiert. Sie erkannte das Datum wieder. Er hatte seinen letzten Willen gleich am Tag der Diagnose aufgeschrieben. Sie atmete tief durch, setzte ihre Brille auf und las.
Liebste Madeleine,
nun ist es also soweit. Ich bin fort und vielleicht schon an einem anderen Ort angekommen und du irrst vermutlich umher, verloren, so wie ich umherirren würde, wenn du vor mir gegangen wärst. Insofern kann ich mich wohl glücklich schätzen und du solltest dich glücklich schätzen, dass du noch Teil dieser wunderbaren, aufregenden Welt bist.
Doch so aufregend sie ist, alles auf der Erde zerfällt irgendwann zu Staub. Wenn du, liebe Madeleine, das hier liest, habe auch ich damit angefangen. Mein ganzes Leben lang habe ich Dinge angehäuft, von denen klar war, dass sie mich überdauern würden. Geld, teure Kleidung, Aktien und Kunstobjekte, die ich zum Teil nicht einmal schön finde. Und das alles nur, um jetzt zu sagen: »Was soll’s.«
Madeleine schüttelte den Kopf, als sie las, dass es ihn nicht interessierte, was mit seinem Haus, seinen Kunstwerken und seinem Geld passierte. Er setzte keinen Erben ein, keine wohltätige Organisation, es kümmerte ihn einfach nicht. Das war so unverwechselbar Paul, dass sie ihn augenblicklich noch mehr vermisste. Schwermütig las sie den letzten Absatz.
Einen letzten Wunsch, falls mir ein solcher zusteht, habe ich allerdings.
Madeleine, ich weiß, dass unsere Geschichte nicht so endet, wie du es dir gewünscht hast. Trotzdem möchte ich, dass du deinen Weg weitergehst, auch ohne mich. Du musst jetzt ein alternatives Ende schreiben, aber das heißt nicht, dass es kein glückliches Ende sein wird. Ich habe von hier oben ein Auge auf dich und hoffe, dass ich mir keine Sorgen um dich zu machen brauche. Denk immer an deine eigenen Worte. »Wenn man tut, was man kann, dann tut man, was man muss.«
In Liebe, Paul
Sie legte den letzten Brief, den sie je von ihm bekommen würde, zur Seite. Jetzt war sie froh, dass sie die begonnenen Dokumente nicht gelesen hatte. Auch in seinem Testament gab es keinen Ansatz einer Erklärung, keinen Hauch des Bedauerns, dass es mit ihnen nicht anders gelaufen war. Scheinbar wollte er nicht, dass sie sich Vorwürfe machte, was bedeuten musste,
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