Die Muse des Mörders (German Edition)
dass er ihr auch keine gemacht hatte. Einerseits erleichterte sie das, andererseits bekam sie die Sache trotzdem nicht aus dem Kopf. Hätte sie ihre Selbstständigkeit ein Stück weit aufgegeben, Mut bewiesen und ihn geheiratet, wäre sie nun seine Witwe. So war sie das diffuse Überbleibsel einer Beziehung, die vielleicht in die Siebziger gepasst hatte, die aber für jeden, der nicht ihre Erfahrungen gemacht hatte, nicht befriedigend sein konnte.
Die Essenz ihrer Liebe ist Mut.
So einfach war das nicht. Sie klappte den Laptop zu, lehnte sich zurück und blickte zum Fenster. Natürlich würde sie tun, was sie konnte. Sie versprach es Paul in Gedanken. Trotzdem fühlte sie sich so schwach und so müde wie selten zuvor.
23.
Ein einziges Mal in seinem Leben hatte er an einer Jagd teilgenommen. An einem Novembertag vor vielen Jahren hatte sein Großvater ihm zeigen wollen, »wie die Menschen zu seiner Zeit ihren Hunger gestillt hatten«. Die Sache hatte mit einem im Schnee verblutenden Rehbock geendet. Den Schrei des verwundeten Tieres hatte er bis heute nicht vergessen und seine Begeisterung für Schusswaffen hatte sich seitdem in Grenzen gehalten. Jetzt, da er seinen eigenen Hunger stillen musste, bereute er diesen Umstand. Seine Beute, die zwar kein Rehbock war, ihm aber mindestens genauso schnell und behände vorkam, hätte er mit einem gezielten Schuss mühelos erledigen können.
Ein paar kostbare Sekunden lang war er vor Schreck wie gelähmt gewesen, bevor er die Verfolgung aufgenommen hatte. Sekunden, die die Gestalt genutzt hatte, um Abstand zwischen ihn und sich zu bringen. So panisch wie sein Opfer vor ihm davonrannte, bestand kein Zweifel daran, dass es verstanden hatte, worum es ging. Um nicht mehr und nicht weniger als sein Leben. Die Gestalt bog ab und durchquerte ein Durchhaus. Er beschleunigte seine Schritte und folgte ihr auf dem Fuß. Keuchend rannten sie hintereinander durch die Nacht, zwischen Tischen und Stühlen durch, die ein Kaffeehausbesitzer draußen gelassen hatte. In Panik griff seine Beute zwei der Stühle und warf sie ihm in den Weg. Er stolperte, fiel und sah gerade noch, wie die Gestalt geschickt an einem schmiedeeisernen Tor hinaufkletterte, an der anderen Seite hinuntersprang und in der Dunkelheit verschwand.
Fluchend schnellte er hoch, nahm den Dolch zwischen die Zähne und kletterte selbst an den Querstreben des Tores hinauf. Er schmeckte eisenhaltige Klumpen auf der Zunge und beherrschte sich, nicht zu würgen. Er nahm die Waffe aus dem Mund und sprang zu Boden. Für einen Moment war es totenstill.
Er befürchtete, die Fährte verloren zu haben, doch dann hörte er ganz leise hastige Schritte und nahm die Verfolgung wieder auf. Seine Lungen brannten und er verfluchte sich dafür, keinen Sport zu machen. Der Flüchtende war ihm deutlich überlegen, so wie der Rehbock damals im Wald ihm und seinem achtzigjährigen Großvater deutlich überlegen gewesen wäre, wenn sie keine Flinte gehabt hätten. Außerdem hatte es für den Bock keine rettende U-Bahn-Station gegeben, in die er fliehen konnte.
Erschrocken blieb er stehen, als er feststellte, dass die Verfolgungsjagd ihn zurück auf die Hauptstraße geführt hatte. Er sah seine sicher geglaubte Beute davonlaufen, geradewegs auf die Stufen einer U-Bahn-Station zu. Dort unten war es um diese Zeit zwar menschenleer, aber es gab Überwachungskameras und sein Opfer hielt ihn wohl nicht für so dumm, sich bei einer seiner Taten filmen zu lassen. So dumm, den bisher einzigen Zeugen seiner Morde entkommen zu lassen, durfte er allerdings auch nicht sein. Wenn er aufflog, wenn die Polizei ihn einsperrte und er sein Werk nicht weiterführen konnte, würde sein dunkler Stern ihn vernichten. Schlimmer noch, sie würde die Wahrheit erfahren. Eine Wahrheit, die sie nicht ertragen würde.
Er mobilisierte all seine Kräfte und legte noch einmal an Geschwindigkeit zu. Die hell erleuchteten Geschäfte ließen das paranoide Gefühl in ihm aufkommen, aus allen Richtungen von Kunden und Verkäufern beobachtet zu werden.
Seht mal, da rennt der Dolchstoßmörder und er ist gerade ziemlich am Arsch.
»Halt die Klappe«, flüsterte er und rannte weiter. Wieder kam ihm sein Großvater in den Sinn. Es war gegen Ende der Jagd gewesen, sie hatten den Rehbock mehr als eine Stunde lang durch den Wald gehetzt, waren durchgefroren und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie aufgegeben. »Jetzt müssen wir den Feind ablenken. Ihn
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