Die Muse des Mörders (German Edition)
ans Bett gebracht wie jeden Abend, aber mit einem unbestimmten Lächeln in den Augen. Jetzt, als er die Kloschüssel mit beiden Händen umklammerte und Wasser spie, das mit bitteren weißen Klumpen durchsetzt war, verstand er das Lächeln. Als er schließlich auf dem Boden lag und zusehen konnte, wie seine spastisch zuckenden Arme und Beine sich von unten nach oben blau färbten, wie die Sehnen und Adern hervortraten, als wollten sie seinen sterbenden Körper verlassen, stand sie über ihm und ihr Lächeln war zu einem eiskalten Grinsen geworden. Er verlor die Kontrolle über seinen Körper, heulte und schrie. Sie stand nur da, ihren dürren Torso mit den Armen umklammernd, und rief ihm zu, doch endlich zu verrecken. Und genau das tat er. Er starb nicht, er verging nicht, er schied nicht dahin. Er verreckte.«
Der junge Mann machte eine bedeutungsvolle Pause und ein hörbares Luftholen zog sich durch den Raum, als ob das Café selbst durchatmen müsste. Seit gut zehn Minuten las der Autor jetzt schon und sein Bericht steigerte sich von Abschnitt zu Abschnitt in immer düsterere Bilder.
Am Anfang war es Madeleine schwergefallen, der Lesung zu folgen. Der Text war nicht chronologisch aufgebaut, sondern fragmentiert wie ein Puzzle, das sich nur langsam zu einem Gesamtbild zusammenfügte. Mittlerweile hatte sie dennoch verstanden, worum es ging. Der Student beschrieb zunächst einen der Giftmorde. Einen realen Fall, bei dem eine verzweifelte Frau ihren tyrannischen Ehemann getötet und seine Leiche in einem Reisekoffer im Keller versteckt hatte. Nach Wochen hatten Nachbarn den Geruch bemerkt und die Polizei gerufen. Den Beamten hatte sich, Gerüchten nach zu urteilen, ein beschauliches Bild geboten. Ratten hatten den Koffer aufgenagt, sich an den Eingeweiden des Toten satt gegessen und seinen Brustkorb als Niststelle entdeckt. Die Frau hatte den Mord unter Tränen gestanden, ihr Prozess stand noch aus.
In der echten Welt war diese Episode der Giftmordaffäre damit beendet, doch in der Fantasie des Autors ging die Sache anders aus. Der Getötete fand keine Ruhe und wurde zu einem rachsüchtigen Geist. Als Dolchstoßmörder wandelte er fortan auf der Suche nach seiner Frau durchs nächtliche Wien. Jeden, der das Pech hatte, ihm zu begegnen, erstach er kaltblütig.
Madeleine wusste nicht, warum, doch der Vortrag des jungen Mannes beunruhigte sie, als wohne ihm eine tiefere Wahrheit inne. So wie ihrem wiederkehrenden Traum, der jedes Mal ein Fünkchen Wahrheit beinhaltete. Der ihr jedes Mal etwas sagen wollte, von dem sie sich nicht sicher war, ob sie es je verstanden hatte. Zwar geschah immer, wenn sie diesen Traum hatte, etwas Schlimmes oder Trauriges, doch der Sinn seiner Symbolik, der ausgestreckten Hände, die sie vor Entsetzen nicht greifen konnte, wurde ihr nicht klar.
Der Autor stellte sein mittlerweile leeres Wasserglas ab und wollte gerade weiterlesen, als ein glatzköpfiger Herr in den Vierzigern, dessen Namen Madeleine nicht kannte, die Hand hob.
»Ich will ja nicht unhöflich sein, aber ich glaube, wir haben genug gehört.«
Gregor Jungs Blick schnellte in die Richtung des Glatzkopfes und sein Gesicht wurde vor Empörung so rot wie seine Haare.
»Was soll das heißen?«
Nun meldete sich eine große blonde Zuhörerin, die Madeleines Wissen nach kitschige Liebesromane verfasste, ebenfalls zu Wort.
»Das ist eine reine Gewaltorgie. Entschuldigung, aber ich schlafe sowieso schon schlecht genug.«
»Sie können ja gehen«, rief eine der Studentinnen und lächelte dem langhaarigen Autor aufmunternd zu. Dieser nestelte nervös an einer Ecke seines Manuskriptes.
»Mit Verlaub, wir sind doch nicht hergekommen, um das leidige Thema auch noch in allen blutigen Details vorgekaut zu bekommen.« Wieder der Glatzkopf.
Madeleine beobachtete, wie sich die Züge ihres Sitznachbarn verhärteten.
»Die Augen vor der Wahrheit zu verschließen, ist auch keine Lösung«, sagte er.
Die Frau zu Madeleines Linken, eine Malerin und Kinderbuchillustratorin, ließ den Pullover sinken, an dem sie bisher gestrickt hatte. Sie blickte sich aus kurzsichtigen Augen im Café um. Die blutrünstigen Schilderungen des Studenten hatten sie nicht beeindrucken können, doch der aufwallende Streit weckte ihr Interesse. Die gespannte Stille, die während der Lesung geherrscht hatte, war leisen Diskussionen gewichen. Madeleine beobachtete, wie Sitznachbarn die Köpfe zusammensteckten und aufgebracht miteinander tuschelten. Auch die
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