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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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wollte ich Rena am Bett festbinden, ihr eine Schüssel hinstellen und mir ein paar Wischlappen zurechtlegen. Ich wollte mich mit ihr im Zimmer einschließen, sie jammern und heulen lassen, ihr die Schüssel halten, ihr den Schweiß von der Stirn wischen und ihr Bett frisch beziehen. Ich wollte sie im Arm halten, wenn die Krämpfe sie durchrüttelten.
    Ich wusste, was auf mich zukam. Ich wusste, dass es die Hölle wäre für uns beide. Aber ich wollte ihr helfen, die Hölle zu durchqueren. Ich wollte viel tun, nur kam ich nicht allein vom kalten Scheunenboden hoch.
    Gretchen half mir dabei. Dafür schäme ich mich auch – für ihren Griff unter meine Achseln, für das Heulen und Jammern an ihrer Schulter. Es war ihre Stimme, nicht die Worte, nur der Tonfall. Er hatte auf mich die gleiche Wirkung wie die paar Sätze aus der Eisenbahnballade von Reinhard Mey.
    «Und im leeren Raum zwischen Wachen und Traum seh ich sie noch einmal: Der Adler, der Fliegende Hamburger, die Preußische P 8 und die sagenumwobene 05 fauchten vor mir durch die Nacht.»
    Keine Ahnung, was an dieser Aufzählung von alten Zügen einen Menschen dazu verleiten kann, in Tränen auszubrechen. Mir passierte es jedes Mal, wenn ich das Lied hörte. Vielleicht, weil Reinhard Mey vom Krieg sang, weil ich mich, wenn ich es hörte, mit Vater im Wohnzimmer sitzen sah; fünf, sechs, sieben Jahre alt und vor mir meinen untadeligen Helden. Weil ich mir vorstellenmusste, dass auch Vater einmal fünf, sechs, sieben Jahre alt gewesen war. Ein harmloser kleiner Junge, der mit einer Holzlokomotive spielte und davon träumte, Lokomotivführer zu werden. Und wäre er es geworden, hätte Mutter mir niemals erzählen können, dass er geholfen hatte, das Warschauer Ghetto zu räumen. Und ich hätte mich niemals schämen müssen, ihn zu lieben.
    Ich hätte ihn so gebraucht in der Scheune. Ihn und seine Freundschaft mit Heinz Steinschneider und Heinz Steinschneiders Beziehungen zu Kriminaldirektoren und Kriminalräten und anderen höher gestellten Personen, die ein paar Kriminalbeamte zurück auf den rechten Weg bringen konnten. «Jetzt schaut euch mal in Frankfurt um, ihr Trottel. Nehmt den Bus noch einmal auseinander, aber gründlich diesmal. Es muss etwas drin sein, womit sich die Anwesenheit des Mädchens beweisen lässt.»
    Gretchen hatte keine Beziehungen, nur eine Hand, mit der sie mir auf den Rücken klopfte, und einen Mund, mit dem sie murmelte: «So ist es gut, lass es raus.»
    «Ich kann das nicht. Ich konnte es damals schon nicht. Sie hat so viel gespuckt als Baby. Ich musste mich übergeben, wenn ich sah, dass sie zu würgen begann. Wie oft habe ich auf den Knien vor der Toilette gelegen. Und sie lag im Bettchen. Und ich dachte, ich hätte sie auf den Bauch drehen müssen. Sie erstickt, wenn ich sie nicht auf den Bauch drehe. Aber ich konnte nicht aufstehen. Ich konnte nicht ins Kinderzimmer gehen und die Kotze wegwischen. Ich habe Anne geschickt. Anne war noch nicht einmal zwei und ich drückte ihr ein feuchtes Tuch in die Hand und sagte: ‹Geh und wisch das Baby ab, Mutti ist krank.›»
    Gretchen sagte etwas. Ich verstand sie nicht. Sie nahm mir die Handtasche weg und suchte darin nach dem Schlüsselbund. Sie führte mich über den Hof, öffnete die Haustür, schob mich in die Diele. Ich sah schon auf den ersten Blick die Zwei auf dem Zählwerk. Zwei Anrufe! Sie gaben mir den Rest.
    Als ich auf den Knopf drückte, um das Band abzuhören, sagteGretchen: «Du kannst dir die Mühe sparen. Das war ich, zweimal hab ich’s versucht. Aber man kann so einem Ding nicht alles sagen. Da dachte ich, ich geh lieber mal vorbei.»
    Sie irrte sich. Ihre sprachlosen Versuche hatte das Gerät nicht registriert. Der erste Anruf war von Patrick. Wie vom Hersteller versprochen, hatte der Anrufbeantworter brav aufgezeichnet, auch dann noch, als aus dem Monolog über den Film, den man unbedingt gesehen haben musste, längst ein Dialog mit Anne geworden war. Keine Lust auf Schwarzenegger.
    «Kann ich für ein paar Tage zu dir kommen? Meinst du, deine Eltern wären einverstanden? Frag sie doch bitte. Ich muss hier raus, sonst werde ich verrückt. Du kannst dir nicht vorstellen, was bei uns los ist. Meine Mutter dreht durch. Mein Vater will auch ein paar Tage weg. Dann wäre ich hier allein mit ihr. Das halte ich nicht aus. Was sagt deine Mutter? Das ist toll. Ich packe sofort ein paar Sachen. Bis gleich, Schatz.»
    Gretchen hörte mit unbewegter Miene zu. Neben dem Telefon lag

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