Die Mutter
Rena und ihre Reitstallkameraden heran. Es hatte jeder seinen Rang und Stellenwert.
Udo war der oft traurige und wortkarge große Bruder, dem man mit einem kameradschaftlichen Schulterklopfen so manches Lächeln abringen konnte. Armin war der Weise oder der Mentor, der mit seinem trockenen Humor und seinem unerschöpflichen Wissen über Urpferde die schweren Stunden leichter machte.
Horst war der arme Kerl, den man bedauerte, für den man sich Blut abzapfen ließ. Aber sich von ihm in die Eisdiele einladen lassen war unmöglich. Horst hätte sich Hoffnungen machen können, die Rena nicht erfüllen wollte.
Katrin war die Selbstbewusste, die ein Auge auf Armin geworfen hatte, der Katrins Gefühle allerdings nicht erwiderte. Ilona war die Distanzierte und Wachsame, die Rena erst erklären musste, dass hinter Horsts Verhalten mehr steckte als Kameradschaft. Und Tanja war das kleine Dummchen, das sich gerne mit blödsinnigen Behauptungen über angebliche Beobachtungen wie zum Beispiel dem Kuss zwischen Hennes und Udo wichtig machte.
In Nitas Gruppe war es so ähnlich. Da konnte man Uwe Lengries auf die gleiche Stufe stellen wie Armin. Von Uwe Lengries hatten sie eine Menge erfahren. Olgert bezeichnete ihn als einen recht vernünftigen jungen Mann, der sich nur aus einem Grund dem Häufchen um Nita angeschlossen hatte: um seinen Freund André am endgültigen Abrutschen zu hindern.
Olgert sprach über Nitas unheilvollen Einfluss auf Menke und die anderen. Nita sei immer die Triebfeder gewesen. Und Rena bis vor zwei Jahren nur eine geduldete Mitläuferin wie die kleine Tanja, über die man sich lustig machte hinter ihrem Rücken. Renas Ansehen stieg erst, als sie Nita nur noch den Rücken zeigte.
Was sie von da an für Nita gewesen war, wusste Olgert nicht, oder er wollte es mir nicht sagen. Er räumte ein, dass er für die vier Stunden selbst keine rechte Erklärung fand. Aber irgendwo blieb immer ein Mysterium. Was in Nitas Kopf vorgegangen war, konnte niemand erraten. Renas Gedanken dagegen lagen – im wahrsten Sinne des Wortes – wie ein offenes Buch vor ihm.
Ich war auf dem Heimweg – gezwungen langsam zu fahren mit dem Rad hinter mir und der offenen Heckklappe –, da hörte ich ihn immer noch sagen: «Wir müssen davon ausgehen, dass sie nicht eingestiegen ist, Frau Zardiss. Wenn die beiden sie nur zum Zug nach Hamburg gebracht haben, hätte sich jemand vom Zugpersonal oder ein Mitreisender an sie erinnern müssen. Und wenn sie sich drei Tage lang in diesem Bus aufgehalten hätte, wie Menke und die Kolter, hätten die Kollegen in Frankfurt eindeutige Beweise finden müssen. Sie haben eine Menge gefunden, Haare, Essensreste, benutzte Papiertücher und Kleidungsstücke, und jede Kleinigkeit lässt sich zuordnen.»
Und ich hörte mich schreien: «Und was wollen Sie dann im Frankfurter Zoo? Seehunde füttern? Ich werde Dr. Steinschneider anrufen. Ich lasse mich nicht länger hinhalten.»
Dann saß ich in der Scheune, auf dem kalten Boden, betastete den platten Vorderreifen, betrachtete den platten Hinterreifen und die leere Halterung für die Luftpumpe, pflückte winzige Strohstückchen aus den Profilen und wartete auf die Tränen. Wartete darauf, dass der Kreisel im Kopf ein Ende fand.
Sie sind an den Anfang zurückgekehrt, Vera! Das machen sie immer, wenn sie nicht weiterwissen.
Es gab keine Tränen. Der Kreisel drehte sich unaufhörlich die überfluteten Dorfstraßen hinauf, zeigte mir Feuerwehrwagen bei der Spar- und Darlehenskasse, Männer mit Schaufeln und Sandsäcken bei der unterspülten Mauer des Friedhofs. Und das Kopfschütteln des Brandmeisters.
Wenn wir wieder am Anfang waren, hatten wir einen Fehler gemacht. Wir hatten die Männer nach einem Mädchen mit einem Fahrrad gefragt.
Ich wollte nicht wieder am Anfang sein. Ich wollte das Dorf hinter mir lassen. Nach Frankfurt wollte ich, im Dreck wühlen, Nita Kolter finden. Und Rena natürlich, die bei ihr sein musste! Renalitt nicht unter Haarausfall. Rena hinterließ keine Essensreste. Rena ließ benutzte Papiertücher nicht herumliegen. Mal ein Sweatshirt auf dem Bett, aber mehr nicht. Und dann wollte ich sie beide zurückbringen. Wirklich beide!
Ich wollte Nita vor der Eigentumswohnung ihrer Mutter absetzen und zu Regina Kolter sagen: «Binde sie am Bett fest, stell ihr eine Schüssel hin, leg ihr ein paar Wischlappen zurecht und lass sie das Zeug auskotzen. Wenn du bei ihr bleibst und ihr hilfst, kann sie es schaffen.»
Und dann
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