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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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dass er Angst hat, er müsse das alles nochmal durchmachen. Katrin hat über Knochenmarkspende gelesen und meint, wir könnten uns doch alle testen lassen. Sollten wir wirklich tun, um ihm zu zeigen, dass er sich auf uns verlassen kann.
    Über die gestohlene halbe Stunde mit Armin auf der hinteren Koppel. Keine heimlichen Küsse getauscht, nur ein paar Mathematikformeln erklärt. Über die zarten Annäherungsversuche von Horst, eine Einladung ins Kino oder in die Eisdiele. Über die Unmöglichkeit einer Ablehnung, die Horst nicht verletzte. Über die Mitschülerin, die in Bio ihr Heft unter der Bank durchreichte und Rena abschreiben ließ. Über die Verabredung für einen Nachmittag, an dem sie mit Armin, Tanja und Ilona nach Köln fuhr, statt die Zeit im Stall zu verbringen. Hennes war einverstanden und fand es toll. Katrin hatte Angst vor der eigenen Courage bekommen und Udo keine Zeit oder Lust, sie zu begleiten. Aber sie setzten den hehren Vorsatz in die Tat um, ließen sich in irgendeinem Sowieso-Mobil, von dem Armin im Fernsehen gehört hatte, dass es zur Zeit in Köln Blutspenden sammelte, ein bisschen abzapfen. Und stolz waren sie, alle vier, auf ihren Heldenmut.
    Vielleicht besaß auch Olgert so etwas wie Heldenmut oder Stolz. Vielleicht gefiel es ihm nicht, Befehle entgegenzunehmen, von deren Nützlichkeit er nicht überzeugt war. Es kann auch Mitleid gewesen sein oder der Glaube, dass sie in wenigen Stunden ohnehin ihre Karten auf den Tisch legen müssten. Nach der weitschweifigenund nichtssagenden Erörterung einiger Tagebuchpassagen wurde er sachlich und umriss den Kernpunkt in ein paar knappen Sätzen.
    Es gab in den drei Tagebüchern, die er zurückbehalten hatte, zahlreiche Hinweise auf Nitas Fluchtpläne, die wichtigsten waren auf Englisch abgefasst. Olgert vermutete, dass Rena befürchtet hatte, wir könnten in ihren Aufzeichnungen schnüffeln. Nicht ich wohlgemerkt, aber Mutter hätte nachschauen können, und Englisch beherrschte sie nicht.
    Für Olgert stand fest, dass Rena sogar Nitas Gründe gekannt, allerdings nicht das gesamte Vorhaben gebilligt hatte. Da gab es Sätze wie: «Sie tut mir so furchtbar Leid, ich würde ihr gerne helfen. Ich finde es einerseits toll, was sie vorhat, aber es ist auch sehr gemein.»
    Fein säuberlich hatte sie notiert, dass Nita sie in den letzten Wochen vor ihrem Verschwinden beinahe täglich gebeten hatte, mitzukommen. Rena hatte jedes Mal abgelehnt.
    Und Olgert sagte: «Sie wäre auf keinen Fall freiwillig in den Bus gestiegen.»
    «Sie glauben, die beiden haben sie gegen ihren Willen mitgeschleppt?»
    Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, ehe er den Kopf schüttelte. «Nein. In diesem Fall hätte Menke sie mitsamt ihrem Rad im Bus verfrachtet. Es ist eine Kleinigkeit für einen kräftigen jungen Mann, sich ein so zierliches Persönchen unter den Arm zu klemmen.»
    «Aber nicht, wenn ein Auto vorbeifährt.»
    Er zuckte mit den Schultern. «Ach, das ist in der heutigen Zeit kein Risiko mehr. Und dann bei dem Wetter, da hält niemand an, um zu fragen, was los ist. Aber es war keine Gewalt im Spiel. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass Nita mit einem üblen Trick versuchte, Ihre Tochter zum Einsteigen zu bewegen.»
    Er machte eine winzige Pause, ehe er weitersprach. «Renas Radstand im Stall, vorne beim Tor. Wir wissen, dass Nita um sechs Uhr im Stall war. Sie könnte bei dieser Gelegenheit die Ventile an beiden Reifen geöffnet und die Luftpumpe mitgenommen haben. Es war doch eine Luftpumpe am Rad?»
    Welch weltbewegende Frage! Sie erinnerte mich an eine Episode mit Jürgen in der Praxis. Eine Schwangere, eine von den werdenden Müttern, die im dritten Monat schon Umstandskleider tragen und die Wiege herrichten, die neben dem Ultraschallgerät in Rührung zerfließen, jeden Schatten, jede Bewegung erklärt haben wollen. Ist das ein Händchen? Ist das der Kopf? Wo ist das Herz? Ich fand es nicht. Es gab auch keinen Ton, nur den nervösen Herzschlag der Mutter, ein paar Darmgeräusche und das Glucksen und Rauschen des Fruchtwassers im Uterus.
    Ich rief Jürgen dazu. Und ich sah seinem Gesicht an, dass mir kein Fehler unterlaufen war. Die Frau war ängstlich geworden. Jürgen beruhigte sie mit ein paar Worten und fragte: «Vertragen Sie das Eisenpräparat gut, das ich Ihnen beim letzten Mal verschrieben habe?»
    Die Frau starrte ihn an und nickte mechanisch.
    Ich nickte auch und fragte mich, was Olgert mir als Nächstes sagen wollte. Jürgen hatte damals

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