Die Mutter
Versehen Milch hineingetan. Sie entschuldigte sich, fragte, wie viel Zeit ich hätte, und strich dabei über ihr Haar.
«Wenn du es einrichten kannst, würde ich gerne einen Termin bei Fräulein Gisela machen. Den Termin letzte Woche konnte ich ja nicht wahrnehmen.» Fräulein Gisela war ihre Friseuse. Und ich hatte Zeit, alle Zeit der Welt. Ich konnte den ganzen Nachmittag bei Vater sitzen und in Ruhe über verzerrte Stimmen reden. Mutter lächelte dezent. «Dann gehe ich mal zum Telefon. Vielleicht habe ich Glück und kann jetzt gleich kommen.»
Ich begriff es erst, als sie das Zimmer wieder verlassen hatte. «Wohin geht sie?»
Vater schmunzelte. Er schmunzelte tatsächlich und es war weder schief noch verzerrt. «Du hast es doch gehört.»
«Und was hast du gehört? Bitte, Papa, lüg mich nicht an. War es an dem Montag dieselbe Stimme, die Klinkhammer dir vorgespielt hat? War es Nita?»
Er schaute mich an, sehr ernst und sehr nachdenklich, dann schüttelte er langsam den Kopf. «Nein, Vera, auf gar keinen Fall. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es ein Mann war. Aber frag mich nicht, was genau er gesagt hat. Es kann etwas völlig Harmloses gewesen sein. Es tut mir Leid, dass ich dir diesen Unsinn diktierthabe. Ich war der Überzeugung, ich hätte es so gehört. Vielleicht waren es nur meine eigenen Gedanken, die ich gehört habe. Tagelang hatte ich nur immer das eine gedacht: Wenn dem Kind etwas zugestoßen ist, ist es meine Schuld. Verstehst du, was ich meine?»
Natürlich verstand ich. An dem Tag verstand ich alles. Es war ein guter Tag! Mutter telefonierte mit ihrer Friseuse. Vater hatte gesagt, was ich hören wollte und noch ein bisschen mehr. Seine Gesichtsmuskeln gehorchten wieder seinem Willen. Regina Kolter hatte mir auf einen neuen Weg geholfen. Ich sah zwei Mädchen, von denen eines krank war und Hilfe brauchte. Und Rena tat, was sie konnte und solange es nötig war. Ein paar Wochen, ein paar Monate.
Vater erinnerte mich mit ernster Miene, dass Regina Kolter «wenn» gesagt hatte. Hinter «wenn» gehörte ein Fragezeichen.
«Ich muss dir nicht sagen, wie glücklich ich wäre, wenn du Recht hättest, Vera. Aber tu dir selbst einen Gefallen, bleibe realistisch und mach nicht aus dem Blickwinkel dieser Frau eine neue Weltanschauung. Verlass dich vor allem nicht darauf, dass sie über ihre vermeintlichen Beziehungen etwas über die Mädchen erfährt. Einflussreiche Männer, die solche Frauen regelmäßig besuchen, sind meist zu feige, sich in irgendeiner Weise dazu zu bekennen. Warum engagierst du nicht endlich jemanden?»
«Wen denn?»
Er dachte nach und schlug vor, ich solle Heinz Steinschneider anrufen. Steinschneider hätte vor Jahren einmal mit einem jungen Polizisten zu tun gehabt, der den Dienst quittieren musste. Im Grunde ein zuverlässiger Mann, nur leider zu unkonventionell für den Beruf. Ein Disziplinarverfahren nach dem anderen. Steinschneider hätte es sehr bedauert und später einmal davon gesprochen, dass der junge Mann sich als privater Ermittler selbständig gemacht habe.
«Es wäre mir lieber, wenn du Steinschneider anrufst», bat ich. «Ich kenne ihn doch kaum.»
«Aber er kennt dich, Vera. Wie soll ich ihn denn anrufen?»
Ich zeigte auf das nutzlose Telefon neben seinem Bett. «Du brauchst nur ein Wort zu sagen, dann steckt die Schwester das Ding ein, du kannst anrufen, wen du willst. Und ich könnte dich auch anrufen.»
Vater lächelte. «Ich habe schon daran gedacht, aber ich glaube, es ist noch zu früh. Weißt du, es ist ein Unterschied, einen Hörer abnehmen zu wollen, weil man zum Friseur gehen möchte, oder zu müssen, weil es klingelt. So weit ist deine Mutter noch nicht, lass ihr ein bisschen Zeit.»
Mutter kam um sechs mit einer frischen Dauerwelle zurück und steuerte ein wenig zur Unterhaltung bei. Der leidige Anruf. Vater hätte die Sache gerne abgehakt. Mehrfach versuchte er, ihr Einhalt zu gebieten. Nur war es unmöglich, sie von diesem Thema abzubringen. Zwar neigte sie nicht zu Übertreibungen, es war auch nicht ihre Art zu prahlen. Aber sie hätte ihre neu erworbene Fähigkeit gerne ein wenig ausgebaut und mir weisgemacht, der herabbaumelnde Hörer wäre dicht neben ihrem Ohr gewesen. Für sie spielte es keine Rolle, ob dieser Anruf für uns von Bedeutung war oder nicht. Das vermeintlich dezente Stimmengewirr im Hintergrund hatte sie an etwas erinnert. Nun zerbrach sie sich den Kopf, wo sie etwas Ähnliches schon einmal gehört hatte. Nicht auf einem
Weitere Kostenlose Bücher