Die Mutter
Jeder braucht seine Fassade.
Ich war ruhig und stark und mutig genug, einen Abstecher zur Praxis zu machen. Die Zeit war günstig. Mittagspause. Jasmin war daheim und Sandra Erken inzwischen wohl auch längst mit ihrem Sohn beschäftigt.
Ich dachte, dass wir ein bisschen Zeit für uns hätten. Zeit für eine Entschuldigung. Zeit zu sagen: «Tu dir das nicht an, noch eine Nacht auf der Couch. Sei nicht albern und komm heim. Ich habe eingesehen, dass ich mich unmöglich benommen habe. Aber wenn wir beide in dieser scheußlichen Situation ein bisschen Rücksicht aufeinander nehmen …»
Sein BMW stand auf dem Parkplatz vor der Praxis. Ich stellte den Mercedes daneben, nahm den Schlüssel aus der Handtasche, überlegte beim Aussteigen, ob ich ihm erzählen sollte, womit ich mir den Vormittag vertrieben hatte. Lieber nicht! Vorerst nicht an Rena rühren, höchstens fragen, ob er über das Ergebnis der Kanalinspektion informiert worden sei.
Die Eingangstür war nur angelehnt. Im Treppenhaus begegneten mir ein alter Mann und eine junge Frau mit einem Säugling auf dem Arm. Es gab mehrere Praxen im Haus. Ein Internist, ein Zahnarzt, ein Kinderarzt, ein Orthopäde, ein Urologe und Jürgen im ersten Stock.
Ich schloss die Tür auf, trat ein. Wie erwartet waren Anmeldung, Labor und Wartezimmer leer. Die Tür zur Teeküche stand offen. Ich sah benutztes Geschirr im Ausguss stehen und oben aus dem Mülleimer lugte die Verpackung einer Pizza. Die hatte er sich wohl am Abend bringen lassen.
Die Pappschachtel erzählte mehr als tausend Worte. Jürgen verabscheute Pizzen. Aber was will man machen, wenn man allein und hungrig in einer Arztpraxis sitzt? Wenn man sich nicht aufraffen kann, unter Menschen zu gehen. Wenn nur der Italiener ins Haus liefert. Es tat mir Leid, dass ich am Abend vorbeigefahren war. Er musste sich sehr mies gefühlt haben.
Ich hatte vergessen, wie mies ich mich gefühlt hatte, und verziehihm, dass er nicht da war. Er musste irgendwo in der Nähe sein, in einem der umliegenden Restaurants. Für eine weitere Strecke hätte er den Wagen genommen.
Es gab drei Restaurants, die in Betracht kamen. Den Italiener, der die Pizza geliefert hatte, einen Chinesen und ein Lokal mit so genannter gutbürgerlicher Küche, von dem ich nicht wusste, ob es dort einen Mittagstisch gab. Den Italiener konnte ich mir sparen, mehr als eine Pizza tat Jürgen sich bestimmt nicht an. Und Nudelgerichte waren auch nicht sein Fall. Ich versuchte es zuerst beim Chinesen, dort war er nicht. Und mir war immer noch danach, mit ihm zu reden, ruhig und sachlich und überzeugend. Aber ich fand ihn nicht, auch nicht vor gutbürgerlicher Küche.
Ich ging zurück zur Praxis, holte den Wagen und fuhr zum Krankenhaus. Dass ich Gretchen versprochen hatte, gegen Mittag zurückzukommen, hatte ich vergessen. Ich glaube, ich hatte sogar Gretchen vergessen.
Ich war voll mit neuen Gedanken, neuen Wegen und Hoffnungen. Und ich wollte denen ein bisschen abgeben, die es ebenso nötig brauchten wie ich.
Meine Eltern saßen bereits vor Kaffee und einem Stück Marmorkuchen. Vater überließ mir seine Portion, behauptete, ihm sei der Kuchen ohnehin zu trocken, und das Mittagessen sei überaus reichlich gewesen. Mutter machte sich auf den Weg, mir einen Kaffee zu besorgen.
Ehe sie zurückkam, hatte ich Vater in groben Zügen über den Montag informiert, beginnend mit dem ergebnislosen Abbruch der Suche, damit er sich nicht unnütz aufregte. Dann ein paar Worte über Regina Kolter und Uwe Lengries, über neue Ansichten, geänderte Meinungen und hoffnungsträchtige Schlussfolgerungen.
Vater hörte aufmerksam zu. Es ging ihm besser. Er sprach langsam, aber gut verständlich. Er wollte sich kein Urteil erlauben, weil er Nita nie persönlich kennen gelernt, uns nur hin und wieder übersie hatte sprechen hören. Er meinte, allmählich wisse man wirklich nicht mehr, was man denken oder glauben solle. Er wusste auch nicht mehr, ob er das, was er mir ins Notizbuch diktierte, tatsächlich gehört oder es sich nur eingebildet hatte.
«Was die Uhr angeht, Vera, da bin ich mir sicher. Zu dem Zeitpunkt war ich noch ruhig. Aber dann …»
Er betrachtete mich, als wollte er mich um Verzeihung bitten. «Du glaubst nicht, wie so ein Weinen eine Stimme verzerrt. Das habe ich Klinkhammer auch gesagt, als er uns diese Bänder aus Frankfurt vorspielte.»
Bevor ich nachhaken konnte, kam Mutter mit einer Tasse Kaffee zurück. Er war nur lauwarm, und sie hatte aus
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