Die Mutter
Bahnhof, das stand fest. Auch zu Kneipe und Spielautomat hatte Mutter nur ein entschiedenes Nein. In solchen Etablissements hatte sie sich nie aufgehalten. Und dann dieser Ruf: «Wo bist du denn?» Oder: «Was machst du denn?» «Du denn», das war sicher.
Vater mochte nicht mehr wissen, was genau gesagt worden war. Mutter wusste es umso besser, und sie konnte sich auf ihr Gehör verlassen. Im Gegensatz zu Vater, der energisch leugnete, alt zu werden, hatte sie mit ihren fünf Sinnen absolut keine Probleme. Gut, sie brauchte eine Lesebrille, aber nur selten, sie las ja nicht viel. Und ihre Ohren – sie hörte ausgezeichnet. Gerufen hatte eine Frau! Darauf hätte Mutter einen Eid abgelegt. Eine schüchterneFrau, vermutlich schon etwas älter. Und Herr Klinkhammer war an dieser Auskunft sehr interessiert gewesen.
Um sieben verabschiedete ich mich. Und es war immer noch ein guter Tag. Klinkhammers Interesse an einer Frauenstimme war kein Grund zur Besorgnis. Dass ein Polizist sich das Grinsen verkniff, wenn eine alte Frau sich mit einer Nichtigkeit wichtig machte, sprach nur für seinen Charakter.
Ich wollte heimfahren, aber nicht allein. So entschloss ich mich, noch einen Besuch in der Praxis zu machen. Jürgens Wagen stand auf dem gleichen Fleck wie mittags. Die Eingangstür war noch offen. Neben dem Aufzug stand ein Damenfahrrad, dem ich keinerlei Bedeutung beimaß.
Ich nahm die Treppe, steckte den Schlüssel ein. Es war kurz nach sieben, Sandra Erken und Jasmin waren längst weg, das Wartezimmer leer. Ich ging zum Sprechzimmer, öffnete die Tür. Niemand zu sehen.
Auf dem Schreibtisch stand ein Aschenbecher. Er stand dort immer. Es war ein schönes, schweres Stück aus Granit. Jürgen bewahrte Büroklammern und ähnlichen Kleinkram darin auf. Jetzt lag der Kleinkram auf der Tischplatte. Und im Aschenbecher lag eine Zigarettenkippe, die bis auf das Filterstück abgebrannt war. Im ersten Moment dachte ich an Klinkhammer. Es war naheliegend. Er hatte den Tag bestimmt nicht untätig verbracht und war persönlich erschienen, um Jürgen über neue Erkenntnisse zu informieren. Ich spürte schon den dumpfen Herzschlag. Da sah ich die Verfärbung am Filterstück.
Es war nur ein schwacher Abdruck, der mehr ahnen als erkennen ließ, dass er von einem dunkelroten Lippenstift stammte. Der Ansatz von Beklemmung verflog. Manche Patientinnen waren nervös. Wenn Jürgen ihnen etwas Unangenehmes mitteilen musste, sagte er nicht nein, wenn sie eine Zigarette rauchen wollten. Er leerte den Aschenbecher und schob ihn über den Tisch.
Ich ging zur Tür hinüber, die in den Untersuchungsraumführte. Und hörte dieses Geräusch – wie ein leises, sinnliches Lachen. Gleich darauf hörte ich die Stimme. «Nun hab dich doch nicht so. Du musst mal abschalten. Ich weiß, dass es im Moment nicht einfach für dich ist. Aber wann hast du es mit ihr denn einfach gehabt? Du hast früher selbst mal gesagt, vom Trübsinnblasen wird’s nicht leichter. Na komm, ich werd dir was anderes blasen.» Ich kannte die Stimme, obwohl ich sie so nie gehört hatte. Bei mir klang sie nicht nach Schlafzimmer, nur nach Kasernenhof. «Ich will den Doktor sprechen, persönlich und sofort!» Eva Kettler! Und was sie gesagt hatte, klang nach langjähriger Vertrautheit. Da hätte sie nicht anfügen müssen: «Nimm es als Erinnerung an alte Zeiten. Ich werde dich schon aufrichten, wenigstens teilweise.»
Es war der krönende Abschluss eines viel versprechenden Tages! Man denkt nicht nach in solch einem Moment. Es fehlt einfach die Zeit, um eine Rechnung aufzumachen. Zwanzig Jahre insgesamt, neunzehn davon Ehe. Nicht jeder Tag war glücklich gewesen. Aber gerade deshalb war unter dem Strich noch genug übrig, um weiterzumachen. Wenn man nicht gerade über ein zärtliches Tête-à-tête mit einer anderen stolpert. Wenn man gar nicht erst damit beginnt, an all die Abende zu denken, an denen man heimgeschickt wurde, damit wenigstens einer pünktlich Feierabend machen konnte. «Da brauchst du nicht dabeistehen, Vera. Sie will nur reden.»
Nein, er wollte reden. Sie konnte nicht, mit vollem Mund. Ich wollte die Tür aufstoßen und in den Untersuchungsraum stürmen. Aber als das Rauschen in meinen Ohren nachließ und ich verstand, was er sagte, verweigerten Hände und Füße den Dienst.
«Er hat sich mehr darüber aufgeregt, dass er es ihr gesagt hatte, als über das, was der Kerl gesagt hat. Er hat sie immer in Watte gepackt. Jetzt liegt er da und zerbricht sich
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