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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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überlagert wurde. Ich ließ das Band noch einmal ablaufen, hätte mich dabei gerne auf die atemlose Stimme konzentriert, ausschließlich darauf. Das ließ Gretchen nicht zu. An der Stelle, wo sie sagte: «Hast ’ne Dummheit gemacht, was», stach sie mit einem Zeigefinger einen Punkt in die Luft.
    Beim dritten Durchlauf wusste ich, worauf ich zu achten hatte. Es half mir nur nicht viel. «Hast ’ne Dummheit gemacht, was?», sagte Gretchen und unter ihren Worten lag ein schwaches Klopfen. Gretchen sagte: «Und jetzt tut’s dir Leid.» Und von ihrer Stimme fast völlig zugedeckt war eine zweite Stimme. Was sie sagte, verstand ich nicht.
    Wir versuchten es zehnmal, zwölfmal, ohne Erfolg. Mit jedem Durchlauf wurde die wichtige Stimme fremder und zugleich vertrauter.
    Gretchen fluchte: «Hätte ich doch das Maul gehalten. Aber ich dachte, ich bring ihn zum Reden.»
    «Was macht dich so sicher, dass es ein Er ist? Es kann auch eine alte Frau sein. Je öfter ich es hörte, umso mehr denke ich, es ist eine alte Frau.»
    Sie schüttelte unwillig den Kopf. «Das kommt dir nur so vor.Wenn einer rumjammert, klingt er eben wie ein Waschweib. Aber eine alte Frau ist es garantiert nicht. Alte Frauen telefonieren nicht in der Gegend rum, weil sie was nicht mehr aushalten. Die gehen aufn Friedhof, in die Kirche oder in die Nachbarschaft. Oder sie sitzen in ihrer Küche und starren die Wände an. Du musst die Kripo anrufen.»
    Es war Viertel nach acht. Ich wollte niemanden anrufen. Ich wollte etwas essen und das «O mein Gott» vergessen. Und ich wusste, dass ich es nur vergessen konnte, wenn ich es nicht mehr hören musste. Noch einmal, nur ein einziges Mal, und die Worte hätten sich für die Ewigkeit in mein Gehirn gebrannt.
    «Ich glaube nicht, dass sie noch im Büro sind. Ich rufe sie morgen früh an.»
    «So was liebe ich», fauchte Gretchen. «Morgen früh! Meinst du, morgen früh hört sich das anders an? Tu doch nicht so, als ob du nicht verstanden hättest, was er gesagt hat. Du hast ihn mit deinem Spruch aufn Punkt getroffen. Wer sollte schon einen Grund haben, darauf so zu reagieren? Das ist ihm an die Nieren gegangen.»
    Das wusste ich. Ich wollte es nur nicht wissen müssen. Einer! Er! Ihm! Der Mörder meiner Tochter!
     
    Zuerst dachte ich, Gretchen sei ebenso über alles informiert wie Jürgen, mein Vater und neuerdings auch Eva Kettler. Doch als sie weitersprach, begriff ich, dass sie ebenso dumm dastand wie ich. Auch sie hatte man nicht für würdig befunden, an der Wahrheit teilzuhaben.
    «Jetzt hör mir mal gut zu», begann sie. «Wenn du so tun willst, als wärst du blöd, ich will’s nicht und ich bin’s nicht. Ich kann mich nicht immer so ausdrücken wie ihr, aber denken kann ich. Und wenn du denkst, ich hätt hier nichts zu melden, weil’s mich nichts angeht, da irrst du dich. Es geht mich ’ne Menge an. Jahrelang hatte ich nichts am Hut mit euch. Was hätte ich mich kümmern sollen, wenn der Doktor lieber so tut, als hätt ihn der Storch gebracht?So ist das Leben. Man setzt Kinder in die Welt und denkt, nun hat man was für die alten Tage. Aber manchmal gehen die Kinder ihrer Wege, stoßen auf was Besseres und vergessen, wo sie hergekommen sind. Muss man sich mit abfinden. Ich hab nie zu denen gehört, die sich in die Ecke legen und jammern.»
    Sie holte nicht einmal Luft, sprach mit zunehmender Heftigkeit wie ein Maschinengewehr, das seine Kugeln in die Gegend spuckt, weil sie ihm in seinem Innern unerträglich geworden sind.
    «Und dann kam sie eines Tages von sich aus. Es war mir nicht recht. Ich dachte, es gibt nur Knatsch, wenn der Doktor und Vera dahinterkommen, dass ihre Kleine mich besucht. Aber sie kam gern, und ich mochte es gern, wenn sie kam. Und da dachte ich, das Kind kann doch nichts dafür, wenn die Alten spinnen. Und nun ist sie weg. Und, verdammt nochmal, ich will wissen, was mit ihr passiert ist. Ich will’s wissen, weil’s mein Enkelkind ist. So viel Verwandtschaft hab ich nicht, dass ich bei jedem denken kann, soll mir doch den Buckel runterrutschen.»
    «Es tut mir Leid, ich   …»
    «Ach, Quatsch», sie winkte ab und beruhigte sich wieder. «Für ’ne Entschuldigung ist es zu spät. Will ich auch gar nich hören. Das musste eben mal gesagt werden. Du kannst es dir vielleicht nicht vorstellen, aber ein bisschen Gefühl hab ich auch im Leib. Und soll ich dir sagen, was ich noch hab? Angst, dass ich sie nie wieder seh. Und dir geht’s genauso. Hättest dich sehen müssen, als

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