Die Mutter
es ist schon spät.»
Sie lachte. «Und? Wirst ja wohl nicht annehmen, dass ich mich vor der Roggenmuhme fürchte.»
«Nein», sagte Jürgen und grinste verlegen. «Aber man weiß nie, wer sich draußen rumtreibt. Könnte sein, dass er rasch dahinterkommt, wer mit ihm gesprochen hat.»
Sie grinste böse. «Na, das hoffe ich doch. Das wär mir ein ganz besonderes Vergnügen. Ich bin dann mal weg.»
Und wir waren allein.
Jürgen meinte, wir sollten ins Bett gehen. Er benahm sich nicht anders als sonst, nur war er dabei ganz anders. Nicht fremd, nur kalt. Ich wollte reden, er sagte: «Das hat wohl nicht mehr viel Sinn.»
«Ich war in der Praxis.»
«Das weiß ich. Ich habe die Tür knallen hören und aus dem Fenster geschaut.»
«Wir müssen darüber reden. Ich kann jetzt nicht schlafen.»
Er zuckte mit den Achseln. «Das ist dein Problem, Vera. Ich bin sicher, ich kann. Gute Nacht.»
Er ging hinauf. Oben schloss sich eine Tür hinter ihm. Ich blieb auf der Couch liegen. Irgendwann fiel ich in einen unruhigen Schlaf, aus dem ich häufig aufschreckte. Meine innere Zeitmaschine holte mir ein Bild nach dem anderen aus den Sternen zurück. Und jedes Mal, wenn sie eins scharf eingestellt hatte, rüttelte sie mich an der Schulter oder riss mir gewaltsam die Lider hoch, damit ich es mir anschaute. Das blass werdende Gesicht von Hennessen, sein Entsetzen vor meiner Anschuldigung. Udo von Wirths verlorener Blick auf dem Krankenhausparkplatz. Olgerts Schmunzeln über Renas Tagebüchern und sein Vortrag über Realität und Wunschvorstellung in den Zeilen. Klinkhammers Referat über Frankfurt und Jürgens versteinerte Miene dazu.
Ich sah Jürgen an der Anmeldung in der Praxis stehen und einen Blick auf die bereitgelegten Patientenkarten werfen. Ich hörte ihn sagen: «Du kannst heimfahren, Vera. Es ist nur noch die Kettler, mit der komme ich allein klar.»
Ich sah ihn gegen den Rahmen der Küchentür gelehnt und mit vor der Brust verschränkten Armen auf den Anruf seiner psychisch gestörten Patientin warten.
Ich sah uns auf dem Standesamt. Wir bestellten das Aufgebot, und er sagte: «Vater unbekannt.»
Ich sah uns vor dem Altar, wir versprachen, einander zu ehren, zu lieben und zu achten in guten wie in schlechten Zeiten. Ich sah mich im Kreißsaal liegen bei Annes Geburt. Er war bei mir und versuchte, es mir so leicht wie möglich zu machen.
Er war noch nicht so weit, dass er sein Kind allein auf die Welt hätte holen dürfen. Aber er redete so lange auf den zuständigen Arzt ein, bis dieser kapitulierte und ihm die Regie überließ. Und er machte es mir so leicht, dass ich später oft dachte, eine Geburt sei vergleichbar mit einer Darmverstimmung.
Komisch, dass man immer erst begreift, was man hatte, wenn es nicht mehr da ist. Ein Kind verloren, die Ehe kaputt, den Vater zu Lügnern und Betrügern in einen Sack gesteckt.
Auf das, was mit meinem Kind geschehen war, hatte ich keinen Einfluss mehr. Da blieb mir nur, zu glauben und mich irgendwann mit den Tatsachen abzufinden. Wenn es denn irgendwann Tatsachen gab. Aber der Rest …
Es war eine von den Nächten, nach denen man sich wie gerädert fühlt. Ich fühlte mich seltsamerweise frischer, war auf der Stelle hellwach, als mich kurz nach sechs das Wasserrauschen aus der Küche aufweckte. Es war, als hätte ich darauf gewartet, weil das Rauschen mein Startschuss war.
Und ich war bereit zu kämpfen um meine Ehe, meinen Glauben, das Ansehen meines Vaters in meinen Augen und meine neue Meinung über Nita Kolter. Obwohl ich mich fragte, was es mir noch bringen sollte, Nitas Ansehen in Jürgens Augen zu heben. Wo Nita doch nur die Version für das gestresste Töchterlein war.
Noch so ein kalter Moment, zwei, drei Sekunden voll Glauben an den Tod! Ich wollte nicht zulassen, dass der Glaube sich über die zwei, drei Sekunden hinaus ausbreitete. Doch verhindern konnte ich es auch nicht. Er war wie ein widerlich trüber und bitterer Bodensatz und darüber türmten sich die Scherben der Ehe. Aber da gab es vielleicht noch etwas zu kitten.
Ich ging in die Küche, voll mit guten Vorsätzen. Jürgen füllte die Kaffeemaschine. Er goss Wasser nach, als ich zwei Gedecke aus dem Schrank nahm. Villeroy & Boch, Serie Nanking, nur das Einfache mit den Blümchen für jeden Tag. Die kleine Salatschüssel vom Speiseservice kostete knapp hundert Mark. Wir hatten es wirklich nobel. Nur hatten wir uns nichts mehr zu sagen.
Ich versuchte einen Anfang zu finden mit einem
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