Die Mutter
Situation hatte ich mehr Verwahrlosung erwartet und der Begegnung mit gemischten Gefühlen entgegengeblickt. Insofern war es eine angenehme Überraschung.
Kemnich war sauber gekleidet, frisch rasiert, ordentlich gekämmt und machte allein damit einen seriöseren Eindruck als Klinkhammer. Ich schätzte ihn auf Anfang dreißig. Er war um einiges älter, wie sich dann herausstellte; ein jungenhafter Typ, der gut in einen Werbespot gepasst hätte. Das machte ihn einerseits sympathisch, andererseits sprach es ihm die Kompetenz ab.
Aber kaum hatten wir die ersten Sätze gewechselt, war er so kompetent, wie ich mir Klinkhammer und Olgert gewünscht hätte. Und er blieb es gut eine halbe Stunde lang.
Ich gab mir Mühe, ihm nur Fakten zu präsentieren, keine eigene Meinung und keine Wunschvorstellungen einzuflechten. Ein paar Mal unterbrach er mich. «Also das Letzte, was dieser Zeuge gesehen hat, war, dass Ihre Tochter auf der Straße neben der Fahrertür stand?»
«Ja.»
«Und wie weit ist es von da aus bis zu den von Wirths?»
«Fünf- oder sechshundert Meter. Es kann auch mehr sein. Ich kann das schlecht schätzen.»
«Der Regenumhang hat eine Kapuze, nehme ich an?»
«Natürlich.»
Er nickte versonnen, murmelte wie im Selbstgespräch. «Aber die dürfte sie im Wagen abgenommen haben. Wenn sie allerdings nur ein kurzes Stück mitfahren wollte …»
An der Stelle brach er ab, sprach jedoch gleich weiter: «Auch wenn es nur ein paar hundert Meter sind, läuft niemand freiwillig durch so ein Wetter. Und wenn da die alten Freunde mit dem Auto stehen, vergisst man vielleicht, dass man ihnen nicht hundertprozentig trauen kann. Da fragt man: Könnt ihr mich ein kleines Stückmitnehmen? Dann saß sie drin. Die Frage ist jetzt, wie ernst war es Nita Kolter, sie mitzunehmen?»
Hoffnung! Es müssen kleine blaue Flämmchen sein, die um das Herz züngeln. Sie sind leicht auszupusten, aber sie wachsen ebenso leicht wieder nach. Und dann geht es von vorne los. Man kann doch nicht sitzen bleiben in so einem dunklen Loch. Man braucht die kleinen blauen Flämmchen, damit ein bisschen Licht ist in der Dunkelheit.
Ich wollte von Kemnich wissen, ob er es für möglich hielt, dass Rena den fehlenden Spuren zum Trotz im Bus gewesen war. Er zuckte mit den Achseln.
«Spuren», sagte er und grinste vieldeutig. «Es kommt nicht auf Spuren an, sondern auf die Leute von der Spurensicherung. Mal abgesehen davon, dass die noch gar nicht wussten, wer alles im Bus gewesen und was mit Menke passiert war, als sie die Karre fanden; die trampeln oft rum, als hätten sie noch nie gesehen, dass sie selbst Dreck unter den Schuhen haben. Und auch wenn sie das wissen, manchmal sind sie einfach blind. Da wurde zum Beispiel vor einigen Jahren in Köln eine junge Frau umgebracht. Ihr Mörder beging Selbstmord und legte vorher ein umfassendes Geständnis ab. Daraufhin haben sie die Wohnung der Frau auf den Kopf gestellt. Und erst mal nichts gefunden. Die Leiche war in einem Schrank auf dem Balkon. Dann war da ein kleiner Junge, angeblich weggelaufen, während die Pflegemutter mal kurz auf dem Klo war. Erst als nach ein paar Tagen die Leiche auftauchte, haben sie festgestellt, dass im Badezimmer ein regelrechtes Schlachtfest stattgefunden hatte. Verstehen Sie, was ich meine?»
Natürlich! Ich war ja nicht blöd. Ich verstand sogar, dass er mir Hoffnungen machen musste, wenn er an mir etwas verdienen wollte.
Kemnich machte mit ein paar Sätze klar, dass ihm nichts daran lag, seinen ehemaligen Kollegen Fehler oder Versäumnisse nachzuweisen.Er hatte auch kein Interesse daran, sich in die Polizeiarbeit hineinzuhängen oder parallel zur Kripo zu ermitteln. Dazu fehlten ihm die Möglichkeiten. Ihm stand kein riesiger Apparat an technischen und sonstigen Hilfsmitteln zur Verfügung. Er konnte eine Menge tun, aber nur dort, wo es um Zähigkeit und Ausdauer ging, wo man eher Antworten erhielt, wenn man die Fragen nicht nach der Dienstvorschrift stellen musste.
«Genau das brauche ich», sagte ich.
Er nickte. «Dann sind wir uns einig. Ich werde nicht mit der Lupe durch den Bus kriechen. Ich kümmere mich nur um Nita Kolter. Alles andere überlassen wir der Kripo.»
Ich hatte ihn ins Wohnzimmer geführt. Er schaute sich aufmerksam um. Auf seinem Gesicht erschien ein bedauerndes Lächeln. «Schade, dass Sie keine Kopie von den Bändern aus Frankfurt haben. Da hätte ich gern mal reingehört. Kneipen klingen zwar meist alle gleich, aber feine
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