Die Mutter
laufen, als zu kriechen.»
Ein Stück von uns entfernt hielt ein grüner Audi. Eine ältere Frau stieg aus und schaute zu uns herüber. Sie nickte einen Gruß, Jürgen nickte zurück. Er schien sie zu kennen, ich kannte sie nicht. Aber ich erkannte den Mann am Steuer, obwohl ich ihn nur einmal sehr kurz gesehen hatte. Es war Udo von Wirths Vater. Der Audi fuhr wieder ab. Die Frau ging mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf aufs Krankenhaus zu.
Ich wollte einsteigen, Jürgen sagte: «Ach, Vera, Moment noch. Schaffst du es auch, heute zu Hause zu bleiben?»
Als ich erneut nickte, sagte er: «Ich sehe zu, dass ich um halb zwei da bin. Weißt du, was ich gerne mal wieder essen würde? Ein Bauernomelett.»
Ich nickte zum dritten Mal, stieg ein und fuhr zu dem kleinen Laden, in dem er den Anrufbeantworter gekauft hatte. Danach fuhr ich heim.
Der Vormittag verging schneller als erwartet. Kurz vor zehn betrat ich das Haus. Der Anrufbeantworter kostete mich fünfzehn Minuten, aber nur, weil ich meinen Spruch intensivieren wollte und ihn mehrfach aufsagte.
«Rena, komm heim, Schatz. Lass uns nicht länger warten. Wir vermissen dich so sehr. Wenn du nicht sofort heimkommen kannst, dann sag uns, warum. Ruf in der Praxis an oder hinterlasse uns nach dem Pfeifton eine Nachricht.»
Beim ersten Mal klang es mir zu dürftig, beim zweiten Mal zu pathetisch, beim dritten Mal, als hätte ich es zwischen Tür und Angel erledigen wollen. Erst beim vierten Mal wurde es perfekt. Da versagte mir die Stimme an genau den richtigen Stellen, weil ich mir vorstellte, wie es in den Ohren eines Mörders klang, wenn die Mutter sein Opfer auf diese Weise um eine Nachricht anflehte.
Dann war das erledigt, und ich sah, wie verwahrlost das Haus inzwischen wirkte. Mutters emsige Hausfrauenhände fehlten nicht nur den Fenstern; Schränke und Fußböden sahen schlimmer aus. Und mir hatte niemand verboten, zu putzen und zu saugen.
Um halb zwölf klingelte das Telefon. Ich ließ meine Ansage durchlaufen, wartete mit steifem Herzen auf die ersten Worte des Anrufers.
Es war nur Heinz Steinschneider, der mir mitteilen wollte, dass er Kemnich wider Erwarten bereits aufgetrieben hatte. Und selbstverständlich war Kemnich bereit, sich ein paar Mark zu verdienen. Steinschneider ermahnte mich dringend, mir die Sache noch einmal zu überlegen.
Es gab nichts zu überlegen. Es war eine absolut überflüssige und sinnlose Aktion, das wusste ich. Ich will nicht so weit gehen, zu behaupten: Eine Mutter fühlt, wenn ihr Kind nicht mehr lebt. Ich fühlte nichts in der Art, auch nichts in einer anderen Art. Ichfühlte überhaupt nichts mehr. Ich fühlte mich wie eine Maschine. Der Hauptgenerator war ausgefallen, ein Notaggregat hielt die lebenswichtigen Funktionen aufrecht; atmen, essen, schlafen, denken, Fakten sammeln und auf Logik abklopfen. Fühlen war Ballast; und ich konnte es mir nicht leisten, den kleinen Hilfsmotor über Gebühr zu belasten.
Als er erkannte, dass mit mir nicht zu reden war, riet Steinschneider, Kemnich nur einen Tagessatz von hundert Mark zu bieten, egal, wie viel er verlange.
«Für ihn ist das eine Menge Geld. Und Sie sitzen am längeren Hebel. Er wird es übernehmen für hundert, davon bin ich überzeugt.»
«Plus Spesen?»
«Ja, das nehme ich an. Es hängt davon ab, wo er recherchieren soll.»
«In Frankfurt.»
«Dann geben Sie ihm hundertfünfzig. Hundert Honorar, fünfzig Spesen. Er wird sich nicht in einem Hotel einquartieren, sondern im Auto schlafen. Das macht er zur Zeit auch.»
Übers Auto hatte Steinschneider Kemnich ausfindig gemacht. Ich beschrieb ihm, wie der ehemalige Polizist zum Hof fand. Er versprach ihn mir für den Nachmittag. Eine genaue Uhrzeit konnte er nicht nennen, der Zuverlässigste schien Kemnich nicht zu sein.
Anne ließ sich nach Schulschluss nicht blicken. Jürgen bekam sein Bauernomelett zu Mittag. Ich hatte den Anrufbeantworter während des Gesprächs mit Steinschneider ausgeschaltet und das Zählwerk anschließend auf null gestellt. Es gab keinen Grund, Jürgen über meine Absicht zu informieren. Ein anderes Gesprächsthema gab es auch nicht nach unserer ausführlichen Unterhaltung beim Frühstück. Wir aßen und schwiegen. Um halb drei fuhr er zurück in die Stadt. Und schon eine halbe Stunde später fuhr ein Wohnmobil mit Kölner Kennzeichen auf den Hof.
Kemnich! Ich war überrascht, als ich ihm öffnete. Nach Steinschneiders Anmerkungen über Haftstrafe, Schlafen im Auto und finanzieller
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