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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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Unfall, bei dem ein hübsches, kluges, zierliches zwölfjähriges Mädchen verletzt worden war. So schwer verletzt, dass es fünf Jahre später daran sterben musste.
    «Das gibt es nicht», sagte Jürgen unwirsch.
    «Vielleicht doch, du bist nicht allwissend. Es könnte sein, dass zum Beispiel ihre Nieren   …»
    «Es könnte auch sein», schnitt er mir das Wort ab, «dass du mir auf die Nerven gehst. Benutz deinen Verstand, ehe du den Mund aufmachst. Dialysepatienten leben gezwungenermaßen mit gewissen Einschränkungen. Sie starten nicht mal so zu einer Fahrt ins Blaue. Sie fangen auch nicht an zu fixen. Dafür hängen sie viel zu sehr am Leben.»
    Er goss sich Kaffee nach, füllte auch meine Tasse noch einmal auf. «Und wenn ich mich recht entsinne, habe ich vor ein paar Tagen gesagt, dass ich den Namen Nita nicht mehr hören will.»
    Er übersah geflissentlich, dass ich meine Fassung und Vernunft nur mühsam zusammenhielt. Vielleicht war es auch nicht so leicht, wie ich es gerne gehabt hätte. Unsere Tochter konnte längst tot sein! Jetzt sollten wir zusehen, dass wenigstens wir beide mit einigermaßen heiler Haut überlebten. Also Schwamm über Eva Kettler, vergessen wir, was passiert ist. Vielleicht war zu viel passiert. «Nimm eine Pille, Vera», reichte nicht mehr.
    «Wenn du Wert darauf legst, deinen Beruf noch ein paar Jahre auszuüben», sagte ich, «schlägst du jetzt einen anderen Ton an.»
    Er grinste. «Das tust du nicht.»
    «Lass es darauf ankommen.»
    «Wie du willst», meinte er lässig. «Dann fange ich am besten an zu rechnen, was? Oder lässt du mir Zeit, bis wir das überstanden haben?»
    «Das überstehen wir nicht!», sagte ich. «Es sind deine Worte. Aber das Rechnen kannst du mir überlassen, das hast du doch immer gemacht.»
    Es war nicht die Zeit zu rechnen. Und zwanzig Jahre in einer Viertelstunde am Frühstückstisch aufzuwiegen war unmöglich. Davon abgesehen war es zu spät, die Waage noch zu bemühen. Wir waren die Leiter zusammen hinab- und hinaufgestiegen, wir hatten uns dabei gegenseitig so oft auf die Finger getreten, dass es keine Rolle mehr spielte, wer von uns zu welchem Zeitpunkt ganz oben, ganz unten oder auf halber Höhe gewesen war.
    Und es ging nicht um seine Fehltritte und meine Versäumnisse. Es ging nur um Rena, von der alle dachten, dass sie nicht mehr lebte. Ich auch – in einer Ecke des Hirns, in die ich noch nicht hineinsehen wollte!
    Es ging um ein Kind, das ich nicht hatte gebären wollen, das so gewesen war, wie wir beide gerne gewesen wären. Stark und mutig, sensibel, hübsch, hilfsbereit und ehrlich. Von Grund auf ehrlich. Und das hatte sie nicht von uns haben können. Manchmal brachte die Natur ein Wunder zustande. Manchmal lernte ein Kind mehr aus dem, was ihm vorenthalten wurde, als vom Beispiel der Eltern. Und die, die nicht gewollt waren, entwickelten sich manchmal zu den besseren Menschen.
    Er widersprach mir nicht, als ich das sagte. Er schaute zum Fenster hin, und sein Kopf bewegte sich, als wolle er nicken. Ich hatte mich ausgetobt. Und er begriff, dass ich bereit war, redlich zu teilen. Es gab keine Versöhnung, nur einen Waffenstillstand, den wir vielleicht irgendwann als Frieden akzeptieren konnten.
    Um halb acht klemmte er den Anrufbeantworter ab. Er tat es nicht gerne. Aber er bestand auch nicht darauf, dass ich beim Telefon blieb. So rasch würde der Anrufer es nicht wieder versuchen, meinte er. Zwischen den ersten Anrufen hätten auch ein paar Tage gelegen. Freitag bis Montag.
    Dass es an dem Montag zwei Anrufe gewesen waren, einer in der Nacht und einer mittags, war uns beiden sehr wohl bewusst. Nur vermieden wir es, die Gedanken dazu auszusprechen. Ich traute mir auch nicht zu, daheim zu bleiben, den Hörer abzunehmen, wenn es klingelte, und so zu reagieren wie Gretchen. Auch wenn sie mit ihrem Versuch sich selbst und der Polizei einen Streich gespielt und weitere, vielleicht aufschlussreichere Sätze verhindert hatte, es war brillant gewesen.
    Ich fragte Jürgen, was Klinkhammer auf dem Band gehört hatte. Er zögerte nicht mit der Antwort. Gretchens Stimme im Vordergrund, darunter das Klopfen. Und zusätzlich zum Klopfen denSatz: «Junge, mach auf.» Dann den Rest: «Ich weiß, dass du da bist.»
    Und ich sah mich ins Notizbuch schreiben: MANN, JUNG, WEINT.
    Wir gingen zur Scheune. Jürgen schloss den BMW auf. Vielleicht rechnete er damit, dass ich einstieg. Er stutzte, als ich zu Vaters Mercedes ging. Für einen Moment grinste er

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