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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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Natürlich habe ich ihn gefragt, aber er wich aus. Vielleicht haben sie noch nicht genug in der Hand für eine Festnahme.»
     
    Als wir zu Bett gingen, war Mitternacht vorbei. Bis dahin hatten wir uns die Köpfe heiß geredet. Wer ist es? Es muss jemand sein, den wir kennen. Ein Fremder hätte nicht das Bedürfnis, uns um Verzeihung zu bitten. Ein Fremder hätte gar nicht die Möglichkeit, uns anzurufen.
    Wir sprachen auch im Bett noch eine Weile. Irgendwann hörten wir auf zu reden, weil wir uns nur im Kreis drehten. Ich lag wach, schaute ins Dunkel. Jürgen schlief auch nicht, wälzte sich von der rechten auf die linke Seite, vom Rücken auf den Bauch. Zweimal stand er auf und ging ins Bad.
    Als er nach dem zweiten Mal zurückkam, setzte er sich auf die Bettkante, stützte die Ellbogen auf den Knien ab und vergrub das Gesicht in den Händen. Er dachte wohl, ich sei eingeschlafen.
    Draußen tauchte der Vollmond am nur leicht verhangenen Himmel alles in fahles Grau. Drinnen zeichnete er die Konturen der Möbelstücke und Jürgens Silhouette auf der Bettkante nach. Ich hatte die Rollläden nicht herabgelassen, der hereinfallende Schimmer reichte aus, in aller Deutlichkeit zu zeigen, wie seine Schultern zu zucken begannen.
    Ich hatte ihn noch nie weinen sehen, noch nie schluchzen hören. Es war auch kein Schluchzen. Es war ein Wimmern, kläglich und dünn wie von einem Säugling. Sekundenlang hörte ich zu, wollteetwas tun und brachte weder die Lippen auseinander noch eine Hand in die Höhe. Dann schaffte ich es, sie ihm auf den Rücken zu legen.
    Er reagierte nicht, das Wimmern hielt an. Seine Stimme war ebenso dünn und kläglich. «Wenn ich diesen Dreckskerl in die Finger kriege, ich breche ihm das Genick. Und ich kriege ihn in die Finger, das verspreche ich dir. Er wird bezahlen. Er wird teuer bezahlen. Mag sein, dass es ihm Leid tut. Aber ich werde dafür sorgen, dass es ihm wirklich Leid tut, so Leid, dass er sich wünscht, er hätte sich die Hände abgehackt, statt sich damit an ihr zu vergreifen. Sie hatte doch keinem Menschen etwas getan.»
    «Leg dich wieder hin und deck dich zu. Es ist zu kalt, um so zu sitzen.» Er trug keinen Schlafanzug und das Fenster war offen. Seine Haut fühlte sich feucht an. Er gehorchte, kroch unter die Decke, vergrub das Gesicht im Kissen und erstickte so die dünnen Töne. Irgendwann, nach mehr als einer Stunde, verstummten sie. Er hatte sich in den Schlaf geweint.
    Und ich lag immer noch wach und fühlte mich genauso wie die Nacht – keine Angst, keine Ungläubigkeit, keinen Schmerz, keine Leere, nur graue Dunkelheit. Im Viereck des Fensters betrachtete ich die Gesichter der Männer, die wir kannten.
    Es waren so viele. Ich begann sie zu sortieren. Die alten Gesichter schob ich zurück in die Nacht. Von den jungen ließ ich nur die übrig, von denen ich wusste, dass sie auch Rena kannten. Da waren es plötzlich nur noch sehr wenige. Armin, Horst und Udo. Und das Schlimme war, ich glaubte mit einem Schlag zu begreifen, dass Olgert mir mit seinem Referat über Beziehungsgeflechte in Jugendgruppen genau das hatte sagen wollen.
    Diese Putzfrau lebte und arbeitete in der Stadt. Armin und Horst lebten und arbeiteten in der Stadt. Bei Renas Geburtstagsparty hatte Horst erzählt, dass er sich oft am Abend in sein Auto setzte und ziellos herumfuhr. «Das ist eine gute Methode zum Abschalten. Wenn man bestimmte Gedanken nicht los wird, beimFahren verschwinden sie. Wenn gar nichts hilft, fahre ich zum Stall, er ist ja immer offen.»
    Ich hatte Rena später gefragt: «Welche Gedanken muss er denn loswerden?» Und sie hatte mir von seiner Krankheit erzählt. Von den regelmäßig notwendigen Blutuntersuchungen, vor denen Horst diese panische Angst hatte. Früher hatte er dafür nach Köln fahren müssen. Erst seit zwei Jahren ging er ins Städtische Krankenhaus.
    Städtisches Krankenhaus! Das war die Verbindung. Mit einem Mal war es so einfach zu erklären; die merkwürdige Vertrautheit, die sowohl Vater als auch ich bei der Stimme empfunden hatten. Natürlich war sie uns vertraut. Wir hatten sie nur vorher nicht so aufgelöst und verzweifelt gehört. Deshalb erkannten wir sie nicht. Ich sah es vor mir und konnte es trotzdem nicht zu Ende denken. Ein junger Mann mit entsetzlicher Furcht vor dem erneuten Ausbruch einer tödlichen Krankheit setzt sich in sein Auto und fährt ziellos herum. Nach einer Weile zieht es ihn zu dem Ort, an dem er sich stark und gesund fühlt. Aber er kann sich

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