Die Mutter
holte den Kaffee und hielt dabei ein zerknülltes Papiertuch in der Hand.
Kleinigkeiten! Nichtigkeiten! Nichts davon ist es wert, erwähnt zu werden. Aber es war unsere Stunde null. Es war der Moment des Jüngsten Gerichts. Es spielte keine Rolle mehr, an welchen Gott wir bisher geglaubt hatten. Jetzt saßen wir dem Einen, dem einzig Wahren gegenüber. Die Heilige Dreifaltigkeit zu einem Teil im grauen Anzug, zum zweiten Teil in Jeans und kariertem Hemd, dessen Kragen unter einer zu langen Haarmähne verschwand. Der dritte Teil war ein Blatt Papier in Klinkhammers Tasche.
«Wir haben ein Geständnis», sagte Klinkhammer.
Olgert betrachtete aufmerksam die Plakette zwischen seinen Fingern und kratzte mit einem Nagel einen imaginären Fleck vom Rand. Annes Schultern zogen sich zusammen, ihr Hals verschwand im Kragen der Bluse. Jürgen ballte die Hände zu Fäusten und ließ die angehaltene Luft in einem langen, gut hörbaren Ton entweichen. Was ich tat, weiß ich nicht, vermutlich nichts. Es gab nichts mehr zu tun.
Nach Klinkhammers Satz war es still. Er wartete, dass wir ihn fragten. Was hat er mit ihr gemacht? Wohin hat er sie gebracht? Man sollte meinen, wir hätten das Bedürfnis gehabt, ihn das zu fragen. Vielleicht hatten wir es und waren nur sicher, dass er es uns auch sagte, wenn wir ihn nicht fragten.
Es war angenehmer, nicht zu fragen, sich nicht gezielt zu erkundigen, auf welche Weise sie gestorben war, ob sie gelitten hatte. Natürlich hatte sie gelitten, war aus Furcht, Schmerz, Entsetzen und grauenhafter Angst tausend Tode gestorben, bevor der eine und letzte sie endlich mitnahm.
Warum war sie nicht in den Bus gestiegen? Nita hatte sie doch mitnehmen wollen! Sie könnte in Frankfurt sein, und es ginge ihr gut. Nita hätte nicht zugelassen, dass jemand ihrem Pferdchen ein Haar krümmte.
Es gibt viele Arten von Kämpfen; die sich im Innern abspielen, sind die blutigsten und grausamsten. Jede Faser bäumt sich auf, ehe sie zerreißt; jeder Nerv zuckt, ehe er durchtrennt wird; jede Ader windet sich, ehe sie platzt. Und das Gehirn registriert das alles und antwortet mit Hammerschlägen.
Klinkhammer zog das Blatt Papier aus seiner Tasche. Es war zweimal gefaltet. Er hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger, als sei es schmutzig, als wisse er nicht, ob er es Jürgen anbieten dürfe oder nicht.
«Ich dachte», sagte er stockend, «Sie sollten es lesen, bevor wir darüber reden.»
Jürgen zögerte, nach dem Papier zu greifen. Nur ein Blatt! Unfassbar, dass sich die Vernichtung eines hoffnungsvollen Lebens auf so engem Raum zusammenballen ließ. Jürgen las und wurde grau im Gesicht. Wortlos reichte er mir das Papier, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Ich hätte sie auch lieber geschlossen, als sie auf die sauber getippten Buchstaben zu heften.
Ich habe am 8. September um zweiundzwanzig Uhr dreißig Renate Zardiss getötet.
Halb elf! Da war ich gerade auf Hennessens Hof angekommen und schaute auf die Uhr. Schwer vorstellbar, dass er ebenfalls auf die Uhr geschaut haben sollte. Macht man das, wenn man tötet? Und wieso Renate? Sie war immer Rena gewesen. Nur in amtlichen Unterlagen war sie Renate.
Ich kam aus dem Krankenhaus und war sehr aufgeregt. Renate Zardiss wartete vor meinem Elternhaus auf mich. Sie bat mich, sie nach Hause zu fahren, weil es stark regnete. Ich ließ sie in meinen Wagen einsteigen.
Während der Fahrt bedauerte Renate Zardiss, dass meine Schwester und ihre beiden Kinder am frühen Nachmittag ums Leben gekommen waren. Dann erzählte sie mir von den Verletzungen, die eine Fuchsstute am Nachmittag erlitten hatte. Renate Zardiss machte sich Sorgen um die Stute und das ungeborene Fohlen. Außerdem weinte sie, weil am Nachmittag ein Hengst verkauft worden war, den sie sehr liebte.
Ich legte ihr eine Hand auf den Mund. Ich wollte nur, dass sie still war. Plötzlich sah ich, dass sie nicht mehr atmete.
Ich fuhr mit ihr zu meinem Elternhaus zurück, zog sie auf dem Hof aus dem Wagen, legte sie auf den Boden und leitete Wiederbelebungsmaßnahmen ein. Mein Vater kam dazu und stellte fest, dass Renate Zardiss tot war.
Mein Vater schickte mich in meine Wohnung. Dort saß ich etwa zwei Stunden, dann stieg ich durch ein Fenster ins Freie. Mein Wagen stand auf dem Hof. Mein Vater und Renate Zardiss waren nicht mehr da.
Udo von Wirth
Ich sah im ersten Moment nur eine Hand auf einem Mund. Eine seiner großen Hände auf ihrem kleinen, hübschen Gesicht. Ich faltetedas Blatt
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