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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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den ersten Tagen nach dem Schlaganfall gewirkt.
    Klinkhammers Überzeugung hatte ihm das genommen, was ich manchmal gehasst, oft bewundert und immer gebraucht hatte, seine Lebenseinstellung. Das Scherzen in brenzligen Situationen, was man leicht für Oberflächlichkeit halten kann. Das «Rutscht-mir-doch-alle-den-Buckel-runter», was man rasch als Gleichgültigkeit abhakt. Das Glücklichsein nach der eigenen Vorstellung, was man schnell als Egoismus bezeichnet.
    Ich hatte schon viel empfunden, seit Rena nicht mehr daheim war: Schmerz, Ohnmacht, Angst, Wut, Verzweiflung, Trauer und Einsamkeit. Nichts davon war vergleichbar mit dem, was ich währendder Heimfahrt fühlte; Jürgens Haut, in die er mich steckte, weil er sie nicht mehr ausfüllen konnte. Er war nur gut eins sechzig groß, aber er war nie klein gewesen. Er war zu dick, aber ihn hatte das Fett stark gemacht. Und jetzt war er zerbrochen.
     
    Wir kamen ins Haus und er hatte Angst, durch die Diele zu gehen, vorbei am Anrufbeantworter. Nur eine Null auf dem Zählwerk. Er wurde noch ein bisschen kleiner. Als sei die Null der Beweis für Klinkhammers Verdacht gegen Udo. Wer von der Polizei festgenommen ist, kann nicht mehr anrufen. Er ging in die Küche, setzte sich an den Tisch und schaute zu, wie ich mich ums Essen kümmerte.
    «Er leugnet», sagte er.
    «Er kann nicht etwas leugnen, was er nicht getan hat.»
    «Er hat es getan, Vera.»
    «Heute Morgen hast du selbst gesagt, es ist zeitlich unmöglich.»
    «Klinkhammer meint, sie hätte vor dem Tor auf ihn gewartet. Dann spielt es keine Rolle, wie lange er für die Fahrt gebraucht hat.»
    «Klinkhammer meint! Klinkhammer weiß einfach nicht, was er noch denken soll.» Ich wusste es auch nicht, aber ich sprach weiter. «Klinkhammer meinte auch, sie sei mit Nita und Menke nach Frankfurt gefahren. Und dann meinte Klinkhammer, sie könne nicht im Bus gewesen sein, weil sie darin keine Haare verloren hat. Sie trug einen Plastikumhang mit Kapuze. Und sie hat ihn bestimmt nicht ausgezogen auf dem kurzen Stück bis zum Bahnhof.»
    Während ich noch einige von Klinkhammers Irrtümern und ein Dutzend eigener Vermutungen aufzählte, sah ich mich die überschwemmte Hauptstraße hinunterfahren, vorbei an der Einmündung der Seitenstraße, an der das Anwesen der von Wirths lag. Es lag nur knapp zwanzig Meter von der Einmündung entfernt, nur so weit wie unsere Scheune von der Haustür. Man konnte das Tor sehen, wenn man auf der Hauptstraße vorbeifuhr.
    Vor dem Tor gewartet! Es brachte mich fast um den Verstand. Wenn ich zur Seite geschaut hätte, hätte ich sie sehen müssen. Hätte, wäre, wenn! Mein Vater hatte einmal gesagt: «Das Wort wenn hat in einer Verhandlung nichts zu suchen. Ich sehe alles in Frage gestellt, sobald ein Anwalt mit wenn zu argumentieren beginnt. Wenn mein Mandant zur fraglichen Zeit in seinem Bett lag, kann er nicht und so weiter. Beweist das etwa, dass der Mandant in seinem Bett lag? Nein, tut es nicht!»
    «War mit Freda Jankowik alles in Ordnung?», fragte Jürgen.
    «Ja. Sie freut sich aufs Baby.»
    «Ist es ein Baby?»
    «Ich habe kein zweites gesehen.»
    «Hast du’s gründlich gemacht?»
    «Natürlich.»
    Er nickte in sich hinein und schwieg.
    Um drei fuhr ein Wagen auf den Hof. Es war Patrick; er stieg nicht aus. Anne kam allein herein, ängstlich, ungläubig, fassungslos, den Kopf voll mit Armin. «Ich habe mich gestern noch mit ihm unterhalten. Er war ganz normal und   …»
    Ich erklärte ihr, was es mit Armins Gang zwischen zwei Streifenpolizisten tatsächlich auf sich gehabt hatte. Anne starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an und stammelte: «Udo? Und ich bin zu ihm ins Auto gestiegen.»
    Jürgen hatte sich nach dem Essen auf die Couch gelegt. Er schlief nicht, lag nur da und schaute auf einen Punkt an der Wand. Anne ging zu ihm, setzte sich in einen Sessel. Ich blieb in der Küche und hörte Anne reden. Über den Müllsack, den Udo durchs Feld getragen hatte, während die Bauern nach Rena suchten; über seinen Besuch bei uns, als er von der Beerdigung seiner Schwester kam und es unter den Gästen nicht mehr ausgehalten hatte. Über andere Absonderlichkeiten, die sie im Laufe der Zeit von Rena gehört hatte. Merkwürdige Begebenheiten im Reitstall.
    «Sei still», bat Jürgen.
    Anne ignorierte ihn. Ich schrubbte die Abtropffläche der Spüle zum vierten Mal, während sie von dem Abend erzählte, an dem Rena nach dem Essen wie so oft noch einmal hinausradelte. Sie kam in den

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