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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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Stall und traf Hennessen und Udo in einer eindeutigen Situation an.
    Für Anne war die Situation eindeutig, für Rena war sie es nicht gewesen. Dass ein älterer Mann einen jungen in die Arme nahm, hielt sie für väterliche Freundschaft. Wo Udo doch immer so viel Ärger daheim hatte und mit Hennes besser über alles reden konnte als mit seinem Vater. Dass Tanja ebenfalls Intimitäten zwischen den beiden Männern beobachtet haben wollte, hielt Rena für eine Lüge. Sie hatte sich nur gewundert, dass Udo fluchtartig und mit hochrotem Kopf den Stall verließ, als sie dazukam.
    «Sei still», verlangte Jürgen.
    «Sie war so naiv», sagte Anne, «und so vertrauensselig. Für sie waren alle Menschen lieb und nett und gutmütig. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, dass mal einer ausflippt und   …»
    «Sei still», brüllte Jürgen und Anne verstummte endlich. Ein paar Minuten später kam sie zu mir in die Küche. Ich schrubbte zum sechsten Mal die Abtropffläche der Spüle.
    Anne ging zum Kühlschrank. «Ist kein Saft für mich da?» Ihre Stimme kippte verdächtig.
    «Du warst ja auch nicht da.»
    «Es tut mir Leid, Mutti, aber ich   … ich   …» Sie schniefte und verzog das Gesicht, als habe sie Zahnschmerzen. «Jetzt hör doch endlich auf mit der Rubbelei, das hält man ja nicht aus. Was   … Was hat er mit ihr gemacht, Mutti?»
    Ich antwortete ihr nicht, ging zum Herd, um die Ceranplatte zu schrubben. Alles war voller Blut. Und die Därme hingen ihr raus. Das Bild verschwand einfach nicht, und es war kein totes Pferd mehr. Wenn sie vor dem Tor gewartet hatte – wenn! Warum war dieses Wort nicht längst aus unserer Sprache gestrichen worden? Hat denn noch niemand begriffen, wie grausam es ist?
    Kurz nach acht sah ich Scheinwerfer den Weg heraufkommen, erst nur das Licht, dann den dunklen Schatten eines Wagens, der die Einfahrt passierte. Ich hatte den Nachmittag damit verbracht, die Küchenschränke auszuräumen und auszuwaschen, um meinen Verstand beisammenzuhalten, um nicht erneut loszuschreien und um mich zu schlagen.
    Auf dem Fußboden verteilten sich Geschirrstapel, Töpfe und Pfannen, Backformen und Lebensmittelvorräte, Besteckkästen und andere Dinge. Es konnte sich niemand in der Küche aufhalten außer mir. Und es konnte niemand zu mir herein.
    Ich war weder um sechs noch um sieben hungrig gewesen, und niemand hatte mich gebeten, Abendessen zu machen. Jürgen war auf der Couch eingeschlafen. Anne hatte sich in ihr Zimmer verzogen.
    Der Wagen hielt vor dem Haus, das Motorgeräusch erstarb, die Scheinwerfer erloschen. Ich sah zwei Schatten aussteigen und auf die Haustür zugehen. Die Klingel schlug an. Zwischen mir und der Küchentür gab es keinen Weg in die Diele. Die Klingel schlug erneut an, drei-, viermal hintereinander. Es klopfte jemand gegen das Küchenfenster. Olgert! Er rief etwas, gestikulierte, ich solle öffnen. Ich zeigte auf die Stapel mit Tellern, Tassen, Töpfen.
    Olgert verschwand vom Fenster. Eine Faust schlug gegen die Haustür. Endlich erwachte Jürgen. Er war mit einem Satz auf den Beinen, kam in die Diele gerannt, rief im Vorbeilaufen: «Warum machst du denn nicht auf?», und riss die Haustür auf.
    Klinkhammer kam zur Küchentür, er nickte mir zu, betrachtete das Chaos. Dann verschwand er aus meinem Blickfeld. Olgert ging einfach nur vorbei. Jürgen rief zur Treppe hinüber: «Anne, komm herunter und hilf Mutti beim Aufräumen.»
    Dann fragte er Klinkhammer: «Möchten Sie einen Kaffee?» Zu mir sagte er: «Vera, bist du so nett und machst uns einen Kaffee?!» Es war keine Bitte, es war ein Befehl. Die Stunden auf der Couch hatten ihm den Rücken wieder gerade gebogen.
    Anne kam herunter und machte sich schweigend daran, die Küchenschränke einzuräumen. Ihr Gesicht war verquollen und gerötet; die Lider dick und schwer, die Augäpfel von aufgeplatzten Äderchen durchzogen. Ihre Nase war rot wie die eines Alkoholikers. Ihr Atem war ein fortwährendes Keuchen und Schniefen, die Taschen ihrer Jeans von benutzten Papiertüchern ausgebeult. Ich brühte Kaffee auf, hob ein paar Tassen und Unterteller vom Fußboden auf, klaubte ein paar Löffel aus dem Besteckkasten bei der Küchentür.
    Sie saßen bereits um den Tisch herum, als ich das Wohnzimmer betrat, aber noch sprach niemand. Klinkhammer wirkte wie ein alter Mann am Ende des Lebens. Olgert saß vorgebeugt und drehte die Christophorus-Plakette an seinem Schlüsselbund zwischen den Fingern. Anne brachte Milch und Zucker,

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