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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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so ein Tier gebracht. Und sie saß im Sattel, als sei sie damit verwachsen.
    Der Zaun grenzte an eine mannshohe Mauer, an die sich im Innenhof die Reithalle anschloss, in der die Anfänger ihre ersten Stunden bekamen. Fünfzehn oder sechzehn Meter waren es an der Mauer entlang bis zur Ecke. Und noch einmal so weit bis zur Einfahrt. Jürgen rannte vor mir her, den Kopf eingezogen, die Hände in die Hosentaschen gebohrt.
    Bei der Einfahrt zog er eine Hand heraus, warf im Schein der Laterne einen Blick auf die Armbanduhr. Dann bückte er sich und hob etwas vom Boden auf. Es war ein Stück Plastik, orangegelb, die eine Seite glatt, die andere geriffelt. Ich hielt es für ein Teil vom Rückstrahler an Renas Fahrrad. Jürgen meinte, es sei von einem Auto, ein Teil von einem Blinker. Er warf es zum Laternenpfahl hinüber. Dort verschwand es im nassen Gras.
    Wie um halb elf lagen Haus, Hof und Reithalle im Dunkeln. Im Stall waren noch die beiden letzten Fenster erleuchtet. Aber das Tor war zu. Nicht verschlossen, wie wir rasch feststellten. Jürgen zog es auf, wir huschten in den Stall wie zwei Diebe.
    «Hennes», rief Jürgen halb laut. «Hennessen?»
    Wir vermuteten, dass Hennessen bei der verletzten Stute war. Rena hatte einmal erzählt, dass er im Stall schlief, wenn eins der Pferde nicht in Ordnung war. In einigen Boxen regte sich etwas. Ich hörte die Tiere schnauben, sonst nichts. Jürgen ging zögerndan den Boxen entlang, schaute über jede Tür, murmelte etwas Beruhigendes. Ich blieb beim Tor stehen.
    Als er bei den letzten Boxen angekommen war, drehte er sich um und hob die Schultern. Er kam zurück, griff nach meinem Arm und zog mich ins Freie. Erst als er das Tor wieder geschlossen hatte, sagte er: «Trommeln wir ihn eben aus dem Bett. Das ist mir doch zu dumm! Warum hat er sie nicht heimgebracht? So schlimm kann’s nicht sein mit der Stute, sie liegt friedlich da.»
    Wir gingen zum Haus. Eine Klingel an der Tür gab es nicht. Jürgen schlug mit der Faust gegen das Holz, brüllte: «Hennes!» Es rührte sich nichts.
    Minutenlang standen wir da, schauten uns an und wussten nicht weiter. Jürgen ging zur Reithalle. Das Tor war verschlossen. Er kam zurück. «Das gibt’s nicht», sagte er.
    Ich glaube, wir dachten beide dasselbe. Aber ich bin nicht sicher, ob wir überhaupt denken konnten. Ich hatte ein Gefühl im Kopf wie Watte. Solange wir noch auf dem Feldweg gewesen waren, hatte ich Hoffnung gehabt. Nun war nichts mehr da.
    «Wo kann er denn sein um die Zeit?» Jürgen drosch noch einmal auf die Tür ein, diesmal mit beiden Fäusten, und brüllte nach Hennessen. Dann meinte er: «Er nimmt gerne mal einen zur Brust. Aber die Kneipen müssten längst zu sein. Versuchen wir’s trotzdem, vielleicht haben wir Glück.»
    Ich verstand nicht, was er von Hennessen wollte. Der konnte uns auch jetzt nicht mehr sagen, als er mir um halb elf gesagt hatte. Mir wäre es lieber gewesen, wir wären den Feldweg noch einmal abgegangen. Vielleicht hatten wir etwas übersehen. Vielleicht waren wir an ihr vorbeigelaufen. Wir mussten an ihr vorbeigelaufen sein in der Dunkelheit.
    «Blödsinn», sagte Jürgen, griff erneut nach meinem Arm, zog mich von der Tür weg und die dreihundert Meter durch die lang gezogene Kurve bis zu den ersten Häusern. Meinen Arm ließ er auch auf der Hauptstraße nicht los.
    «Pass auf, wohin du trittst», sagte er. «Das fehlt uns noch, dass du im Kanal verschwindest.»
    Es war ernst gemeint. Ein paar Jahre zuvor war ein junger Feuerwehrmann auf diese Weise ums Leben gekommen. Er hatte einen vom Wasser hochgedrückten Kanaldeckel übersehen, war in den offenen Schacht gestürzt und ertrunken, bevor seine Kameraden ihm helfen konnten.
    Wir wateten ein Stück die Hauptstraße hinunter. Kurz hinter der ersten Querstraße lag eine Kneipe. Das Licht über dem Eingang brannte noch und beleuchtete das Schild «Bei Friedel». Jürgen lief voran, stieß die Tür auf und hielt sie mir offen. Ein Schwall warmer, verräucherter Luft schlug mir entgegen. Ich musste husten.
    Vor dem Tresen standen zwei Männer, einer von ihnen war Hennessen. Den anderen kannte ich nicht. Auch den Gastwirt hatte ich noch nie gesehen. Ich war nicht oft im Dorf gewesen, und in Kneipen gingen wir nicht. Sie drehten sich alle gleichzeitig zur Tür. Hennessens Miene zeigte Verblüffung und Erschrecken.
    Wir müssen furchtbar ausgesehen haben, verdreckt und nass und die Sorge im Gesicht. Jürgen sprach mit Hennessen und alle starrten mich

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