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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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den Kopf zur Wand.
    Mein Fuß, mein Leben, das war Rena. Sie wollte keine Hilfe, ehe sie es nicht auf ihre Weise versucht hatte. Und wenn sie es erst versuchte, funktionierte es meist irgendwie. Es war nicht perfekt, aber für Rena musste es das auch nicht sein.
    Anne, der alles im Leben praktisch in den Schoß fiel, geriet beim kleinsten Widerstand, bei der geringsten Unebenheit in Panik und bestand darauf, dass ihr jemand die Steine aus dem Weg räumte. Auch wenn sie offensichtlich nur ihr eigenes Verhalten oder ihre Gewohnheiten ändern musste: zuerst einmal wurde nach Hilfe geschrien.
    Als Anne in die Pubertät kam, ging sie auf wie ein Hefekloß. Mehrfach kam sie weinend aus der Schule, war von Mitschülern gehänselt worden. Sie hatte stets nur die besten Noten, es gab ein paar Neider in ihrer Klasse. Man hatte sie gefragt, ob sie ihr Gehirn auf den gesamten Körper verteilt habe. Es war lächerlich, sich deswegen die Augen aus dem Kopf zu heulen. Mich ärgerte es, ich predigte jeden Tag, sie solle sich an die üblichen Mahlzeiten halten und sich nicht zwischendurch mit allem möglichen Kram voll stopfen.
    «Aber wenn ich doch Hunger habe! Und Papa sagt, es ist Veranlagung.»
    Was Papa sagte, war für Anne das Amen in der Kirche. Papa sagte ihr abends: «Dicke Leute sind gemütlich, schau mich an.» Und ich konnte mir tagsüber das Jammern anhören. Irgendwann war ich es leid, strich die Kartoffelchips, die Erdnuss-Flips und die großen Eisbecher mit Sahne von Annes Speiseplan. Als sie protestierte, nannte Jürgen die Aktion eine ausgewogene Diät, und Anne entwickelte sich zum ansehnlichen Teenager.
    Rena hatte andere Probleme, als sie das kritische Alter erreichte. Eine schlimme Akne; Gesicht, Rücken, Brust, alles war von entzündeten, eitrigen Pusteln übersät. Ich schickte sie zum Hautarzt. Sie bekam ein paar Präparate verschrieben, die keine Besserung brachten. Und der Rat, auf Süßigkeiten zu verzichten, war in ihremFall überflüssig. Rena aß keine Süßigkeiten. Ich dachte, wir könnten es mit der Pille probieren. Jürgen lehnte das ab, weil sie noch so jung war, gerade dreizehn.
    «Spar dir die Mühe», sagte Rena, als ich Jürgen zu einem Rezept drängen wollte. «Ich will das Scheißzeug gar nicht.»
    Sie ging es auf ihre Weise an, nahm sich ein Beispiel an Nita Kolter. Auffällige Frisur, schwarz lackierte Fingernägel, schwarz umrandete Augen. Alles an ihr war plötzlich schwarz. Schwarze Schlabberhosen, sackartige schwarze Shirts. Die helle Steppjacke zum Winter blieb unbeachtet im Schrank hängen. Da ich mich geweigert hatte, eine schwarze Jacke zu kaufen, fror Rena lieber. Jürgen nannte es ihre aufmüpfige Phase. «Es wächst sich aus, Vera», sagte er häufig.
    Das hatte es getan, schneller als angenommen. Unser Wechsel von der Stadt aufs Land hatte Rena in ein liebenswertes und natürliches junges Mädchen zurückverwandelt. Die Akne verschwand und hinterließ nur ein paar winzige Narben auf der Stirn. Seitdem hatte es keinen Grund mehr gegeben, sich um Rena zu sorgen. Das machte unseren nächtlichen Marsch so irreal und bedrohlich.
     
    Rena hätte den Wind im Gesicht gehabt, wir hatten ihn im Rücken. Und jede Bö war wie eine Faust, die uns vorwärts prügelte. Der Boden unter den Füßen war glitschig und holprig. Der Damm war hüfthoch mit Gras und Unkraut bewachsen, Schwellen und Schienen gab es darauf schon lange nicht mehr. Nur noch Disteln, Nesseln und was sich sonst ausbreitet, wenn man der Natur ihren Lauf lässt. Der Bewuchs zog sich bis dicht an die rechte Fahrrinne heran.
    Auf der dem Dorf zugewandten Seite hielt man ihn in Schach, da verlief eine schmale Straße, die einseitig von Wohnhäusern gesäumt war. In regelmäßigen Abständen standen Laternen am Straßenrand. Sie waren nicht hoch genug. Ihr Licht reichte nicht über den Damm. Aber es zeigte uns, wann wir die letzten Häuser passierten.Ein Stück weiter die zweite Unterführung. Nichts! Und den Rest des Weges in völliger Dunkelheit bis zu Hennessen. Jürgen hatte längst aufgehört, nach ihr zu rufen.
    Als wir bei dem niedrigen Balkenzaun ankamen, der die Rückseite von Hennessens Grundstück eingrenzt, muss es Viertel nach eins gewesen sein. Wir waren schnell vorangekommen, gingen am Zaun entlang, dahinter lagen die Koppeln mit den Hindernissen. Ich hatte einmal an diesem Zaun gestanden und zugeschaut, wie sie die Fuchsstute springen ließ. Herzklopfen hatte ich gehabt und sie bewundert. Mich hätte niemand auf

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