Die Mutter
Kopf auf der linken Wegseite. Ich hielt mich unter dem Bahndamm. Alle zwei, drei Schritte brüllte er «Rena!» in die Dunkelheit. Jedes Mal war mir, als risse ihm der Wind ihren Namen aus dem Mund. Antwort bekamen wir nicht.
Unter der ersten Unterführung war kein Mensch. Jürgen klammerte sich an die zweite, die näher zu Hennessen lag. Es wäre für Rena die erste Möglichkeit zum Unterstellen gewesen.
Mit jedem Schritt verstärkte sich in mir ein Gefühl wie eine Faust, die mir Magen und Kehle zusammendrückte. Ich hatte Mühe, mich auf den Beinen zu halten. Dabei war es so unwirklich, als hätte jemand in meinem Hirn einen Hebel umgelegt und die Realität abgeschaltet.
Uns passiert so etwas nicht! Es sind immer nur die anderen, denen graue Haare wachsen, die sich mitten in der Nacht auf die Suche machen müssen und sich die Lunge aus dem Leib brüllen nach ihren Kindern.
Natürlich hatten wir uns im Laufe der Jahre ein paar Sorgen machen müssen. Es war nicht alles nach Bilderbuchmanier gegangen. Anne war sieben, als ihr die Rachenmandeln entfernt werden mussten. Bei der Operation brach man ihr ein Stück von einem Backenzahn ab. Kaum war Anne wieder daheim, klagte sie nachts über entsetzliche Zahnschmerzen. Bei Anne war zwar jeder Schmerz entsetzlich und kaum zu ertragen, aber diesmal war es wirklich ernst.
Es hatte sich eine Fistel an der Zahnwurzel gebildet. Und das am Wochenende! Unser Zahnarzt war nicht zu erreichen. Wir brachten Anne in die Klinik nach Köln. Da stand ein halbes Dutzend angehender Zahnärzte um das weinende Kind herum und beriet sich.
Die Fistel musste geöffnet werden. Natürlich, aber was ist mit den frischen Operationswunden im Rachen? Wenn sie mit dem abfließenden Eiter in Berührung kommen … Und wer setzt bei dem wimmernden, zuckenden Kind den Bohrer an? Eine falsche Bewegung und man rutscht ab.
Jürgen machte der Diskussion ein Ende. Wenn sich niemand bereit fände, müsse er es übernehmen. Es sei unverantwortlich, das arme Kind noch länger leiden zu lassen. Er hätte zum Bohrer gegriffen, ich kenne ihn. Es war ihm auch anzusehen. Da entschloss sich eine junge Frau zum Handeln. Sie mochte Anfang zwanzig sein und war die einzige Frau neben fünf Männern.
Es erscheint mir heute noch bezeichnend. Wenn Männer den Mut verlieren oder die Geduld, wenn sie fürchten zu versagen oder wenn es einfach nur lästig wird, sich noch länger mit einer Sache auseinander zu setzen, dann geben sie auf. Sie finden tausend Erklärungen für ihr Verhalten und jede davon hört sich logischund vernünftig an. Und dann heißt es, eine Frau sei nicht logisch und vernünftig, nur weil sie das nicht kann – aufgeben, wenn es um ein Kind geht. Der jungen Frau damals zitterten die Hände und ihr Gesicht verlor ein wenig Farbe. Aber sie tat es und sie schaffte es.
Ich sah Annes Gesicht an, dass der Schmerz fast augenblicklich nachließ. Trotzdem jammerte sie noch, als wir längst auf dem Heimweg waren. Erst als Jürgen ihr sagte, sie könne gar keine Schmerzen mehr haben, beruhigte sie sich.
Rena war ganz anders. Mit neun Jahren brach sie sich einen Fußknöchel. Ich hatte ihr hundertmal verboten, in meine Pumps zu steigen. Aber wie Kinder sind: Rena tat es trotzdem, verließ sogar die Wohnung. Auf der Straße verlor sie die Balance, knickte mit dem linken Fuß um. Dann kam sie mit zusammengebissenen Zähnen in die Wohnung gehumpelt, sagte kein Wort, verzog sich ins Kinderzimmer. Sie musste höllische Schmerzen haben und behauptete, sie habe sich gestoßen.
Es war ein komplizierter Bruch, monatelang stand zu befürchten, dass sie ihr Leben lang humpeln würde. Ich weiß noch, wie ich ihr Vorhaltungen machte, weil sie nicht sofort etwas gesagt hatte. Sie lag in dem Klinikbett, ließ mich reden, schaute mich an.
«Verstehst du», sagte ich, «dass es nur deshalb so schlimm geworden ist, weil du allein in die Wohnung gekommen bist? Du hättest mich rufen müssen.» Sie schwieg. Ich konnte von ihrer Stirn ablesen, was sie dachte: Du hättest mich nicht gehört.
«Du hättest auch jemanden ansprechen können», sagte ich. «Es sind immer Leute auf der Straße. Und man kann jeden bitten zu helfen, wenn man verletzt ist.» Keine Reaktion, nur dieser Blick wie ein tiefes Loch.
«Ich bin nicht böse auf dich», sagte ich. «Ich schimpfe nur, weil ich mir Sorgen mache. Vielleicht wirst du nie wieder richtig laufen können mit einem kranken Fuß.»
«Ist doch mein Fuß», sagte sie und drehte
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