Die Mutter
an.
Hennessen sagte: «Das is ja ’n Ding. Wo kann sie denn abgeblieben sein? Das versteh ich nicht. Wenn sie nicht auf dem Weg war, muss sie zu Udo gelaufen sein. Sie war ja dabei, als meine Schwester von Annegret erzählte. Und Udo hing so an Annegret.»
Die Auskunft, die Jürgen am Telefon von Udos Vater bekommen hatte, beeindruckte Hennessen nicht. «Ach Gott, bei dem Gewusel. Da wird’s rein und raus gegangen sein. Da hat doch keiner mehr geguckt, wer kommt. Außerdem musste sie nicht ins Haus. Udo hat im Anbau ein paar Zimmer hergerichtet. Haben Sie’s mal bei ihm versucht?»
Jürgen schüttelte den Kopf.
Hennessen erklärte: «Er hat ein eigenes Telefon, hat sich so ’nkleines Funkding gekauft, das er immer mit sich herumschleppt.» Er legte einen Finger an die Lippen, dachte nach. «Aber die Nummer weiß ich jetzt nicht. Rufen Sie nochmal im Haus an. Dass einer rübergeht zu ihm und nachschaut.»
Jürgen mochte die Familie von Wirth in dieser Situation nicht noch einmal belästigen und versuchte es zuerst daheim. Es klang logisch, was Hennessen sagte, und tröstlich. Ich sah es vor mir. Dass Rena zum Tor der von Wirths hereinkam, über den Hof zu einem Anbau ging, ohne bemerkt zu werden. Dass sie eine Weile bei Udo blieb. Bis er sagte: «Es ist schon spät, ich fahre dich heim. Deine Eltern machen sich bestimmt Sorgen.»
Hoffnung ist etwas Großartiges. Die Vorstellung eines inzwischen friedlich in seinem Bett liegenden Mädchens, das gar nicht bemerkt hatte, dass die Eltern in heller Aufregung unterwegs waren, wirkte kurzzeitig wie starker Kaffee mit ein paar Baldriantropfen – aufmunternd und beruhigend zugleich.
Es klingelte endlos, ehe Anne sich meldete. Sie hatte bereits geschlafen und nicht gehört, ob nach unserer Abfahrt jemand ins Haus gekommen war. Sie schaute in Renas Zimmer nach. Rena war nicht da. Auch wenn Jürgen es nicht gerne tat, er musste zwangsläufig noch einmal bei den von Wirths anrufen. Auch dort dauerte es ein Weilchen, ehe abgehoben wurde. Die Auskunft kam dann prompt. In Udos Wohnung nachzuschauen war überflüssig. Udo war nicht daheim, sonst hätte sein Wagen auf dem Hof stehen müssen. Er sei seit dem Nachmittag bei seinem Schwager im Krankenhaus, hieß es. Außerdem erklärte Udos Vater, sie hätten am frühen Abend das Tor abgeschlossen, um nicht gestört zu werden von Nachbarn und Freunden. Sie hätten niemandem geöffnet.
Ich hatte Blei im Kopf, alles war zugegossen, keine Ritze frei für einen Gedanken.
Hennessen frage: «Haben Sie’s mal bei Ihrer Mutter versucht?»
«Da geht sie nicht hin», sagte Jürgen.
Hennessen hob die Schultern, ließ sie wieder fallen. «Na, wer weiß, bei dem Wetter.»
«Das kann ich mir nicht vorstellen», sagte Jürgen. «Außerdem hätte sie dann angerufen.»
Der Mann neben Hennessen schüttelte den Kopf. «Nee», erklärte er gedehnt. «Gretchen hat Ärger mit der Post. Sie hat ’ne Rechnung gekriegt über ’n paar tausend Mark, hat sie natürlich nicht bezahlt. Da haben sie ihr letzte Woche die Leitung abgeklemmt.»
Gretchen! Grete Zardiss, Jürgens Mutter, vierundsechzig Jahre alt, unverheiratet. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn ich von ihr gewusst hätte, als ich Jürgen kennen lernte. Ich machte damals ein Praktikum, er war bereits Assistenzarzt auf der Station. Und mir gefiel die Art, wie er mit Patienten umging.
Es imponierte mir, dass er sich von nichts aus der Fassung bringen ließ. Dass er am Bett einer Sterbenden scherzen konnte und die Frau damit zum Lächeln brachte. Vielleicht ist es Unsinn, aber ich dachte damals, mit einem Lächeln stirbt es sich leichter. Und Jürgen hatte sie, diese besondere Leichtigkeit, die es bei meinen Eltern nicht gab.
Jürgen war nie ein Adonis, zu klein für einen Mann und schon in jungen Jahren übergewichtig, das Haar zu dünn oder stark gelichtet, ist ja egal, wie man es nennt. Aber Jürgen hatte Charme und Humor und er kannte keine Zwänge. Wo steht geschrieben, dass man die Füße nicht auf den Schreibtisch legen darf? Wenn die Beine schwer sind, weil man seit vierundzwanzig Stunden im Dienst ist, kaum eine ruhige Minute fand in der Zeit?
So habe ich ihn zum ersten Mal gesehen. Die übereinander geschlagenen Füße zwischen Telefon, Aschenbecher und Papieren auf dem Schreibtisch im Ärztezimmer. In der rechten Hand ein Brot mit Streichkäse, noch halb von Papier umwickelt, in der linken Hand einen Laborbefund, kauend, ein Grinsen auf den Lippen.
«Nur
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