Die Mutter
verlangten ein Vermögen. Für das Geld hätten wir uns ein hübsches Haus am Stadtrand leisten können und ein kleines Auto für mich als Zugabe. Und mit dem Kauf des Reuther-Hofs war es nicht getan, die Renovierung würde noch einmal eine beträchtliche Summe verschlingen.
Wir diskutierten nächtelang. Jürgen brachte ein paar Argumente vor, von wegen friedlichem Leben und sauberer Luft. Als das nicht zog, machte er ein paar Lockangebote. Selbstverständlich ein kleines Auto für mich, es musste ja kein neues sein. Ein hübscher, gepflegter Gebrauchtwagen. Und vielleicht könnten wir meine Eltern fragen, ob sie Lust hätten …
Vater sprach schon seit längerem davon, der Großstadt den Rücken zu kehren und ein kleines Haus in ländlicher Umgebung zu erwerben, in der Eifel vielleicht. Ich blieb bei meinem Nein. Und da erzählte er mir endlich, warum ihm das Anwesen so wichtig war.
Gretchen hatte in jungen Jahren als Magd auf dem Hof gearbeitet, hatte ihre beiden Kinder dort in die Welt gesetzt. Väter unbekannt, vermutlich in beiden Fällen derselbe Vater, der alte Reuther. Jürgen war zwischen Scheune und Stallungen, zwischen Bahndamm und freiem Feld aufgewachsen.
Das wusste ich bereits. Aber die ungezwungene Kindheit, von der er mir bis dahin häufig vorgeschwärmt hatte – Höhlen in denBahndamm gegraben, vom Zwischenboden der Scheune ins Heu gesprungen oder bei Wind und Wetter mit dem Traktor übers Feld –, stand mir plötzlich als grobe Vernachlässigung vor Augen.
Und ich hatte mich immer gefragt, ob er nur mir zuliebe ignorierte, dass seine Mutter existierte. Ich hatte gedacht, dass er sie auf seine Weise liebte und sich nur für ihren späteren Lebenswandel schämte. Dass ihn diese Scham veranlasste, bei meinen Eltern so zu tun, als sei er als Student auf die Welt gekommen. Die Uni, die Studentenbude, die nette, freundliche Frau Liedke, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, angehende Ärzte, Juristen oder Wissenschaftler während der Lotterjahre zu betreuen, mehr als ein paar Klischeebilder hatte er auf Vaters Fragen nie gehabt.
Zwei Wochen vor unserer Verlobung bat Mutter ihn um die Anschrift seiner Mutter. Für die Einladung. «Sie kann nicht kommen», sagte Jürgen. «Es geht ihr gesundheitlich nicht gut.»
Ich bezweifle, dass Gretchen jemals in ihrem Leben ernsthaft krank war. Im Dorf erzählt man sich, sie hätte zwei Stunden nach Jürgens Geburt schon wieder die Kühe gemolken.
Wenn es nach Jürgen gegangen wäre, hätte sie auch an unserer Hochzeit nicht teilgenommen. Aber Mutter bestand darauf, sie einzuladen. Und sie kam. In einem giftgrünen Satinkleid mit aufgenähter Stoffrose auf der linken Schulter. Die rechte Schulter war frei, dafür hatte wohl der Stoff nicht gereicht. Er war auch sonst ein wenig knapp bemessen. Am Dekolleté hätte es ruhig etwas mehr sein dürfen.
Ich dachte, Mutter hätte einen Schlaganfall bekommen. Nicht nur wegen Gretchens Kleid. Sie kam in Begleitung eines älteren Mannes, den sie schlicht als Kurt vorstellte. Kurt mochte in den Siebzigern sein, er war vermögend und machte einen rüstigen Eindruck. Gretchen behauptete, er sei pflegebedürftig. Und seine Pflege hatte sie übernommen.
Jürgen wählte ausgerechnet unsere Hochzeitsnacht, um mir mit zarten Andeutungen begreiflich zu machen, dass Kurt nicht dererste Pflegefall war, den seine Mutter betreute. Nach seiner weitschweifigen und blumigen Erklärung war Jürgen sehr kurz angebunden. «Verstehst du nun, Vera?»
Ich hätte ein Brett vor dem Kopf haben müssen, es nicht zu verstehen. Im ersten Moment wünschte ich mir, ich hätte ein Brett vor dem Unterleib gehabt. Ich kam mir vor wie … ach, ich weiß nicht; hinters Licht geführt, schamlos belogen. Betrogen! So ähnlich hätte ich mich auch gefühlt, wenn ich nach dem Kauf eines Wagens erfahren hätte, die Kiste hat nur Schrottwert. Nur hätte ich in diesem Fall zum Händler rennen, protestieren und auf einem Umtausch bestehen können.
Ich hatte nicht übel Lust, am Morgen nach unserer Hochzeit zum Anwalt zu rennen. Vater verhinderte das. Er redete einen halben Tag auf mich ein. «Sei vernünftig, Vera. Überstürze nichts. Du bist schwanger und nicht mit seiner Mutter verheiratet. Ihn liebst du doch! Und er dich, Vera. Denk einmal darüber nach, warum er dir bisher verschwiegen hat, wer seine Mutter ist.»
Ich dachte darüber nach, monatelang. Jürgen half mir nach Kräften mit weiteren Informationen. Mit jedem Satz machte er
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