Die Mutter
deutlich, wie sehr er sich distanzierte. Kein Mensch kann sich seine Eltern aussuchen, Vera. Entweder hat man Glück oder Pech. Du hattest Glück, Vera, ich hatte Gretchen.
Sie war weder Frau noch Mutter, sie war eine Karikatur. Die billigere und bodenständige Version einer Regina Kolter. Gretchen hatte, als sie Mitte dreißig und Jürgen mit der Schule fertig war, die Arbeit auf dem Reuther-Hof aufgegeben. Seitdem verdiente sie ihren Lebensunterhalt damit, alte Männer bei sich aufzunehmen. Ein einträgliches Geschäft. Es hatte ihr zu einem kleinen Haus am Ortsrand verholfen, ein bisschen Land eingebracht, das sie verpachtet hatte. Da sie die Männer bis zum Tod pflegte, wurde sie meist im Testament bedacht. Und war der eine verschieden, fand sich bald ein anderer, der mit einem Großteil seiner Rente für die Betreuung zahlte.
Gretchen sagte: «Ist immer noch billiger als im Heim. Und mehr Spaß macht’s auch. Dafür garantier ich.»
Ich hatte sie bis zu der Septembernacht dreimal von nahem gesehen. Das erste Mal bei unserer Hochzeit. Das zweite Mal nach Annes Geburt. Sie hatte die Anzeige in der Tageszeitung gelesen und ließ es sich nicht nehmen, mir einen Besuch im Wochenbett abzustatten. Statt des obligatorischen Strampelanzugs fürs Baby legte sie mir einen Hundertmarkschein auf den Nachttisch. «Kauf dem Kind was dafür, wirst am besten wissen, was es braucht. Und wenn’s schon alles hat, tu das Geld auf die Sparkasse.»
Dann sagte sie noch: «Zur Taufe werd ich nicht kommen können. Mit Kurt geht’s zu Ende. Den kann ich jetzt nicht allein lassen, auch nicht für ein paar Stunden.» Kurt starb fünf Jahre später. Zu Renas Geburt schickte Gretchen den Hundertmarkschein per Post mit einer Glückwunschkarte.
Als ich sie das dritte Mal sah, hatten wir den Hof bereits gekauft. Die Handwerker waren da. Ich fuhr regelmäßig hinaus, um zu sehen, wie es mit der Renovierung voranging. An einem Nachmittag hörte ich beim Aussteigen: «Soll ich dir ’nen Teelöffel bringen? Damit geht’s bestimmt schneller. Du spielst hier nicht im Sand, Junge, du sollst die Wand verputzen. Gib mal das Ding her, dann zeig ich dir, wie man das macht.»
Ich kam ins Haus. Sie stand in der Diele; in langen Hosen, kariertem Hemd, die Ärmel aufgerollt, bearbeitete sie die Stirnwand mit einem Holzbrett. Daneben stand der Maurer, grinsend, Zigarette im Mundwinkel. Er bemerkte mich als Erster, sein Grinsen erlosch. Gretchen drehte sich um, sah mich und drückte dem Maurer das Brett in die Hand.
«Hoffentlich hat der Doktor einen Festpreis ausgemacht. Wenn der hier», ihr Daumen zeigte auf den Maurer, «im Stundenlohn arbeitet, seid ihr angeschissen.»
Sie nannte Jürgen nur Doktor, ob aus Stolz – immerhin hatte sie ihm mit ihrem Berufswechsel das Studium finanziert – oder ausSpott, weiß ich nicht. Ich wusste auch nicht, welche Bezahlung Jürgen mit dem Maurer vereinbart hatte. Er hatte nur von einem akzeptablen Preis gesprochen.
«Einen Festpreis», sagte ich.
Sie nickte. «Schau ihm trotzdem auf die Finger. Wenn er in dem Tempo weitermacht, seid ihr zum Winter nicht drin.»
Damit verschwand sie. Danach hatte ich sie noch mehrfach im Dorf gesehen, wenn ich Rena zum Reitstall fuhr und Gretchen zufällig in der Haustür stand oder auf der Straße unterwegs war. Und einmal sonntags. Da stand sie zusammen mit einem Mann bei der Einfahrt. Mutter sah sie vom Küchenfenster aus und befürchtete, sie würden uns einen Besuch abstatten. Aber sie standen nur da. Gretchen zeigte mit ausgestrecktem Arm zum Haus, zur Scheune und den Stallungen hinüber, hakte sich bei dem Mann unter. Und sie gingen wieder.
Anne und Rena wussten, dass ihre zweite Großmutter im Ort lebte. Aber sie hatten nie Kontakt zu ihr gehabt. Bei Gretchen nach Rena zu fragen, hielt ich für Zeitverschwendung. Und Zeit, dachte ich, hätten wir nicht mehr.
Es war kurz vor zwei in der Nacht. Der Regen hatte nachgelassen, als wir aus Friedels Kneipe wieder ins Freie traten, auch der Wind war abgeschwächt. Aber es waren vier Kilometer zum Hof hinaus. Ich glaubte nicht, dass ich auch nur einen schaffte, und wünschte mir, Jürgen hätte nach einem Auto gefragt. Hennessen fuhr einen alten Ford Kombi, der Gastwirt besaß garantiert auch einen Wagen. Nur mochte Jürgen nicht bitten und von sich aus machten sie kein Angebot.
Ich hatte den Eindruck, sie nahmen uns nicht ernst. Ein sechzehnjähriges Mädchen kommt nicht heim! Was ist das gegen Kuhlmanns Frau und die
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