Die Mutter
beiden kleinen Kinder?! Das dumme Ding wird schon wieder auftauchen. Ich meinte, ich hätte von ihren Gesichtern ablesen können, was sie dachten.
Der Mann, der bei Hennessen gestanden hatte, ging mit uns hinaus. Vor der Tür hob er das Gesicht in den Wind und betrachtete mit skeptischem Blick den Himmel. Oben wirbelte es noch tüchtig durcheinander. Kein Stern war zu sehen, kein Zipfel vom Mond, nur unterschiedliche Grau- und Schwarztöne.
Und ich sah Rena in schwarzen Schlabberhosen vor mir. Die blonden Haare auf einer Kopfhälfte so kurz, dass sie wie Stoppeln abstanden, auf der anderen Hälfte lang und hoch toupiert, mit Unmengen von Gel in Form gehalten und rabenschwarze Strähnen hineingesprüht. Sie hätte es wohl gerne einheitlich schwarz gehabt, nur gelang ihr das nie. Sie lief herum wie ein Zebra.
«Ich glaub nicht», sagte der Mann zu Jürgen, «dass diese Nacht noch einer von der Polizei rauskommt. Die kommen sowieso nicht eher, bis man selbst alle Möglichkeiten abgeklappert hat. Aber wenn Gretchen auch keine Ahnung hat, wo die Kleine sein könnte, würde ich an Ihrer Stelle schon mal anrufen. Dass die morgen früh, wenn’s hell wird, gleich anfangen zu suchen.»
Er ging ein Stück mit uns die Hauptstraße hinunter. Ich schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Scherer hieß er, ein Bauer, kantig und gedrungen, den Jackenkragen hochgestellt, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, den Kopf gesenkt, stampfte er neben Jürgen her. Zwei Querstraßen weiter blieb er stehen, es sah aus, als wolle er sich mit einem Handschlag von uns verabschieden. Wieder schaute er zum Himmel hinauf.
«Ruhe lässt einem das ja nicht», sagte er zu Jürgen. «Und Sie sind sicher, dass sie nicht auf dem Feldweg war?»
«Wir haben nichts von ihr gesehen.»
Scherer nickte schwerfällig, betrachtete das Wasser, das uns immer noch über die Stiefel schwappte. «Morgen kann ich draußen nichts tun. Sie wollen ja auch sicher das Auto da rausholen. Stehen lassen können Sie’s nicht. Da fährt’s Ihnen einer zu Klump. Ich komm so um sechs mit dem Lanz. Dann ist es schon hell genug, dassman was sieht. Wir fahren die Strecke ab und nehmen in einem das Auto mit.»
«Können wir es nicht jetzt machen?», fragte ich.
Scherer zögerte. Es war ihm anzusehen, dass er mir die Bitte nicht gerne abschlug. «Bringt nichts», meinte er nach ein paar Sekunden. «Man müsst schon was mehr sehen, nur die Scheinwerfer vom Lanz, das reicht nicht. Da braucht sie nur drei oder vier Meter neben dem Weg zu liegen, dann sehen wir nichts von ihr.»
Wie er es ausdrückte, klang es nach Tod. Er lächelte mich zuversichtlich an. «Jetzt machen Sie sich mal nicht so viele Gedanken. Gehn Sie zu Gretchen. Sie ist bestimmt da untergekrochen. Vielleicht hat sie gedacht, dass Otto sie fährt. Aber der ist eigen, wenn er was gesoffen hat, fährt er nicht gern. Ich komm auf jeden Fall. Morgen früh um sechs. Schon wegen dem Auto.»
Er wandte sich der Seitenstraße zu und verschwand aus unserem Blickfeld.
Wir gingen weiter die Hauptstraße hinunter, an der Spar- und Darlehenskasse vorbei. Die Feuerwehr hatte ihren Einsatz dort beendet. Sie standen jetzt mit ihren Wagen zweihundert Meter weiter an der Metzgerei bei der Kirche. Einige Männer arbeiteten an der Mauer, die den Friedhof zur Straße hin abgrenzt. Es schien, dass die Mauer unterspült worden war.
Jürgen sprach ein paar Worte mit einem der Männer, der seinerseits zu den anderen hinüberrief, ob sie ein Mädchen mit einem Fahrrad gesehen hätten. Kopfschütteln überall. Wir gingen weiter, nahmen den Bogen am Gasthof Schwinger.
Zweimal kam uns ein Auto entgegen, den Kennzeichen nach Ortsfremde, die den Weg durchs Dorf als Abkürzung nutzen wollten und nun fluchen mochten, weil das Wasser auf der Straße sie mehr Zeit kostete. Einmal wurden wir von einem Wagen überholt. Drei junge Leute saßen drin. Sie fuhren zu schnell, spritzten uns bis zur Taille nass. Es machte kaum noch etwas aus. Bei jedem Schritt quietschte es in meinen Stiefeln. Meine Füße waren taubvor Kälte, mein Gesicht brannte im Wind. Kopf und Bauch waren mit Watte gefüllt.
Uns passiert so etwas nicht! Bei uns läuft alles nach Plan. Beruflich: die Ausbildung zum Facharzt, drei Jahre Belegarzt im städtischen Krankenhaus mit den Praxisräumen neben der Notaufnahme, dann die eigene Praxis. Privat: die erste Tochter, die zweite, die geräumige Stadtwohnung und die Erfüllung eines Traumes: der alte Reuther-Hof. Und der
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