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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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ein Besessener mit der großen Stablampe in Baumkronen und hinter Rhabarberbüschel leuchtete, sich die Lunge aus dem Hals schrie, Rena! Rena! Rena!, als wir auf den Hof fuhren. In einem verbeulten Volvo. Jürgen und ich im Fond, Gretchen am Steuer, neben ihr ein alter Mann mit rundlichem Gesicht, der Beschreibung nachmusste es Otto sein. Ich wusste nichts davon. Sie seien gleich wieder weggefahren, sagte Anne. Jürgen hatte mich hinauf ins Schlafzimmer gebracht. Und mehr war nicht gewesen.
    Ich war so lahm, ausgelaugt, das Hirn mit Brettern vernagelt. Ich konnte mich nicht rühren, als kurz nach sieben in der Diele das Telefon klingelte.
    Anne ging hin, meldete sich mit einem Hallo, sagte: «Nein, hier ist Anne.» Dann kam ein nervöses: «Rena?» Ein gespanntes: «Rena? Bist du das?» Ein bettelndes: «Hör auf zu weinen, Rena, und sag was! Warum sagst du denn nichts?» Ein fragendes: «Wer ist denn da?» Ein hektisches: «Sagen Sie doch was!» Und ein unwilliges: «Verdammt nochmal, was soll der Quatsch?»
    Anne legte auf und kam zurück in die Küche. Sie bemühte sich mit einem Kopfschütteln, ihre Überlegenheit zu demonstrieren, und konnte doch ihre Verstörtheit nicht leugnen. In ihrer Stimme schwang sie mit. «So ein Idiot, sagt nur ‹Rena› und macht blöde Geräusche.»
    «Welche Geräusche?», fragte Vater.
    Anne hob die Schultern und verzog hilflos den Mund. «Es hörte sich an, als ob jemand weint. Und da war so ein komisches Klackern im Hintergrund, vielleicht eine Maschine.»
    «War es Rena?», bohrte Vater.
    Anne hob noch einmal die Schultern, sie wirkte unsicher. «Ich weiß nicht. Ich dachte es im ersten Moment. Aber sie hätte gesagt: Hier ist Rena. Oder: Ich bin’s. Sie hätte nicht nur ‹Rena› gesagt, und sie hätte auch mit mir gesprochen.»
    «Wenn es nochmal klingelt, gehe ich ran», sagte Vater.
    Anne trank ihren Kaffee aus und fasste sich an die Stirn. «Ich sollte doch Jasmin und Sandra Erken anrufen.» Sie ging noch einmal hinaus. Ich kam mir vor wie eine Zuschauerin im Kino, untätig und voll nervöser Spannung ein Geschehen verfolgend, das mich nicht persönlich betraf.
    Warten! Ich hasse dieses Wort. Ich habe es immer gehasst. Esbringt mich um den Verstand. Wir wussten nicht, was wir tun sollten, saßen nur da und schwiegen uns an. Anne starrte in ihren Kaffee. Mutters Hände waren in ständiger Bewegung. Ich fragte mich, was in Vaters Kopf vorgehen mochte.
    Wenn ich ihn anschaute, wich er meinem Blick aus. Er hatte Angst, ich könnte ihn noch einmal fragen. Seine Miene war ein Wechselspiel aus Härte – dieser typische Ausdruck, mit dem er uns demonstrierte, dass er auch im Alter noch stark und unnachgiebig war, das Oberhaupt der Familie, der Patriarch, der mit seiner Lebenserfahrung der jüngeren Generation zur Seite steht, der keine Schwächen kennt – und Verzweiflung, Scham, der Erkenntnis, versagt zu haben.
    Ich sah sein Gesicht immer nur für ein paar Sekunden klar vor mir. Dann verschwamm es, und ich sah Jürgen sich nach der Scherbe eines zerbrochenen Blinkers bücken, sah uns das letzte Stück Feldweg entlanglaufen, sah Jürgen neben dem Müllsack auf die Knie fallen, sah mich am Küchenfenster stehen, durchs Dorf fahren, Hennessens Stall betreten. Ich hörte mich nach ihr rufen, sah sie sich in der letzten Box aufrichten und zu mir kommen.
    Ich sah mich noch einmal zusammen mit Jürgen das Haus betreten, hörte den lauten Fernsehton und ging zur Treppe. Ich ging in ihr Zimmer, um mit ihr zu reden. Die Worte lagen auf der Zunge bereit: «Bist du wütend auf mich, weil du hier sitzen musst? Rena, es ist wichtig, dass du etwas für die Schule tust. Es ist deine Zukunft. Ich habe das System mit den Schulnoten nicht erfunden. Ich weiß nur, dass von guten Noten eine Menge abhängt.»
    Dann sah ich den leeren Schreibtisch, ging hinunter und fragte Mutter. Und dann machte ich mich sofort auf den Weg. Und betrat den Stall. Und nahm sie mit nach Hause.
    In meinem Kopf drehte sich die Uhr zurück. Was wäre, wenn! Gedankenspiele, die sich zu einem Berg auswuchsen, der nicht minder wuchtig war als der Berg auf Vaters Schultern. Ich hatte versagt. Im entscheidenden Moment war ich nicht zur Stelle. Undwarum nicht? Weil ich einer Auseinandersetzung aus dem Weg gehen, keinen Blick auf die Leidensmiene eines jungen Mädchens werfen wollte. Ein so lächerlicher Grund!
     
    Mutters Radiowecker zeigte vier Minuten nach acht, als ein Wagen auf den Hof fuhr. Ein Mann stieg aus. Nur ein

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