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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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nass bis auf die Haut.» Dass ich mich dann, so wie ich war, ins Bett gelegt hatte. Aber ich war doch noch einmal aufgestanden! Ich hatte bei Rena auf dem Wannenrand und an ihrem Bett gesessen. Ich war bei den Männern im Esszimmer gewesen. Doch nicht nackt!
    Ich hörte Jürgen die Treppe hinunterpoltern und fragen: «Wann, meinst du, kannst du Steinschneider erreichen?»
    «Ich versuche es sofort», sagte Vater. «Er wird noch im Bett liegen. Aber dann ist er wenigstens zu Hause.»
    Und ich hörte meine Mutter sagen: «Ich werde doch mein Mädchen nicht im Stich lassen, wenn es mich braucht.»
    Sechs Jahre alt war ich gewesen, als Vater diesen Mercedes fuhr, in den ich in der Nacht eingestiegen war. Sechs Jahre alt, als Ursula Bost beim Ballspielen auf der Straße überfahren wurde und ihre Mutter sich die Stirn an der Bordsteinkante blutig schlug. Sechs Jahre! Jetzt war ich zweiundvierzig und ich ließ mein Mädchen im Stich.
     
    Vater stand beim Telefon in der Diele, als ich aus dem Schlafzimmer kam. Draußen fuhr der Lanz ab, das schwere Tuckern hörte ich noch eine Weile. Anne schloss die Haustür, rieb sich die Hände, als friere sie, und ging zur Küche hinüber. Vater schaute hoch, sah mich auf der Galerie stehen und rief: «Lena, komm rasch. Du musst dich um Vera kümmern.»
    Dann sagte er ins Telefon: «Heinz? Dolf hier. Entschuldige, dass ich dich so früh störe. Es ist ein Notfall. Unsere Rena ist gestern Abend nicht heimgekommen.»
    «Nein», sagte ich.
    Vater schaute erneut zu mir hoch und rief: «Leg dich wieder ins Bett, Vera.» Und ins Telefon: «Entschuldige, Heinz, hier geht esdrunter und drüber, das kannst du dir vorstellen. Meine Tochter ist mit den Nerven am Ende.»
    «Nein», sagte ich.
    Mutter kam aus der Küche und rief: «Um Gottes willen, Vera, du kannst doch nicht nackt durchs Haus laufen. Zieh dir etwas über.»
    «Nein», sagte ich.
    Anne rief: «Gib ihr zwei von den Tabletten, Großmutter. Die Packung liegt auf dem Esstisch.»
    Und Vater sagte ins Telefon: «Wir waren die ganze Nacht unterwegs, Heinz. Was wir tun konnten, haben wir getan. Mein Schwiegersohn ist auch jetzt wieder draußen, zusammen mit einem Mann aus dem Dorf. Sie fahren den Weg, den unsere Rena normalerweise nahm, noch einmal mit einem Traktor ab. Ja, natürlich, Heinz. Er hat vor einer halben Stunde schon bei der Kripo angerufen. Aber du weißt doch, wie die sind, wenn es nicht gerade um ein Kleinkind geht. Unsere Rena ist sechzehn. Nein, Heinz, Freunde, bei denen sie sein könnte, hat sie nicht. Es hat auch keinen Streit in der Familie gegeben.»
    Dr.   Heinz Steinschneider! Staatsanwalt am Landgericht in Köln, Vaters Freund und treu ergebener Diener, auf Du und Du mit Kriminalräten, Kriminaldirektoren und anderen hoch gestellten Persönlichkeiten, die eine Maschinerie mit einem Fingerschnipsen in Gang setzen und ein paar lustlosen oder überlasteten Untergebenen Dampf unter dem Hintern machen konnten. Beziehungen muss der Mensch haben! Dann lassen sich eigenes Versagen und Versäumnisse leichter ausbügeln.
    Mutter war in der Küche verschwunden. Ich hörte sie mit Anne reden. «Sie kann diese Pillen nicht mit Kaffee einnehmen. Gib mir ein Glas Wasser.»
    Vater sagte: «Heinz, wir sind mit unseren Möglichkeiten am Ende und befürchten das Schlimmste.»
    Mutter kam mit einem Glas Wasser in der einen und zwei Pillenin der anderen Hand die Treppe hinauf. Ich stand immer noch am Geländer, Mutters Gesicht war wie eine Gipsmaske. Ich wollte keine Pillen schlucken, wollte ihre Hand abwehren, aber ich musste mich mit beiden Händen am Geländer festhalten. Mir war schwindlig vom Begreifen.
    Meine Mutter hatte niemals zu mir gesagt: «Ich werde doch mein Mädchen nicht im Stich lassen, wenn es mich braucht.» Als Ursulas Mutter vor sechsunddreißig Jahren auf der Straße zusammenbrach, hatte meine Mutter gesagt: «Kann man sich denn nicht ein wenig beherrschen? Es hilft einem doch nicht, wenn man schreit und jammert.»
    Sie schob mir eine Pille zwischen die Lippen. Bei der zweiten gelang es mir, den Kopf zu schütteln. Sie hielt mir das Glas hin. Vater legte den Telefonhörer auf und ging mit gesenktem Kopf in die Küche. Anne kam in die Diele und schaute zu mir hinauf. Sie sah, dass ich mich weigerte, und rief: «Nimm wenigstens eine, Mutti. Papa sagte, sie machen nicht müde, nur ruhig. Die Polizei kommt gleich. Du willst doch sicher mit ihnen reden.»
    «Nein», sagte ich, nahm Mutter das Glas aus der Hand und

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