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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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schluckte auch die zweite Pille.
    Die Polizei kommt gleich! Natürlich kommen sie gleich, wenn ein pensionierter Richter seine Enkeltochter als vermisst meldet. Ein Mädchen aus gutem Haus, das wirft man nicht mit anderen in einen Sack, vor allem nicht, wenn der Richter a. D. dafür gesorgt hat, dass von oben Druck ausgeübt wird.
    Und man rechnet fest damit, dass der Einfluss eines alten Mannes ausreicht, um ein Großaufgebot auf die Beine zu bringen. Dass sich der Hof mit Uniformen füllt. Dass sie Hunde bei sich haben, dass ein großer, kräftiger, kompetent wirkender Mann das Kommando übernimmt und sie in alle Richtungen ausschwärmen lässt. Dass sie sich im Gelände verteilen   … Man rechnet mit vielem. Und nie kommt es so, wie man es sich vorstellt.
    Wir warteten länger als eine Stunde. Vielleicht brauchte HeinzSteinschneider seine Zeit, um sich durch die zuständigen Instanzen zu telefonieren. Vielleicht verlor Vaters Bitte auf dem Weg durchs Telefonnetz an Dringlichkeit oder es war noch keiner im Büro, den sie hätten losschicken können. Vielleicht dachten sie auch nur: Der Alte soll sich nicht aufspielen. Ein sechzehnjähriges Mädchen, so etwas passiert jeden Tag. Das kennt man. Und man kennt die Gründe. Warum sollen wir uns ein Bein ausreißen?
    Bis sie kamen, hatte Mutter nach meiner Schulter gegriffen und mich ins Schlafzimmer geschoben. Und wenn ich mir auch nur eingebildet oder geträumt hatte, sie hätte mir beim Ausziehen geholfen, beim Anziehen half sie mir. Mir zitterten die Hände so sehr, dass ich nichts festhalten, keinen Haken, keinen Knopf schließen konnte.
    Mutter nahm Unterwäsche, einen Rock und eine Bluse aus meinem Schrank. Die Unterwäsche und die Bluse ließ ich mir überstreifen, den Rock wollte ich nicht. Anne kam dazu und holte mir eine von ihren Jeans und ein Paar dicke Wollsocken. Als ich sie anzog, sah ich die Blasen an meinen Füßen. Anne sah sie auch und meinte, wir sollten sie erst verarzten. «Das sieht ja schlimm aus, Mutti, damit kannst du nicht laufen.»
    «Ich bin nicht du», sagte ich.
    Sie zuckte mit den Achseln und meinte misstrauisch: «Willst du etwa raus?» Bevor ich antworten konnte, erklärte sie bestimmt: «Das finde ich nicht gut, Mutti. Wenn die Polizei kommt, musst du mit ihnen sprechen. Du warst bei Hennessen. Von uns weiß keiner, was er dir gesagt hat. Und du bist nicht in der Verfassung, draußen herumzulaufen.»
    Ich hätte auch nicht gewusst, wohin ich laufen sollte. Wir gingen in die Küche hinunter. Vater saß am Tisch vor einer Tasse Kaffee. Er rauchte eine Zigarette. So früh am Morgen rauchte er normalerweise nicht.
    «Warum hast du sie nicht abgeholt?»
    Er antwortete mir nicht, schaute zum Fenster hin. Anne bedeutetemir mit einem Kopfschütteln, ich solle ihn in Ruhe lassen. Ich hatte nicht die Energie, meine Frage zu wiederholen. Mutter goss mir und Anne Kaffee ein, setzte sich hin. Es zuckte in ihrem Gesicht, als würde sie in der nächsten Sekunde in Tränen ausbrechen. Ihre Stimme klang rau und gepresst, als sie erklärte: «Ich habe ihr gesagt, bei diesem Wetter bleibst du hier. Aber sie ist einfach raus. Vera, wie oft habe ich dir gesagt: Bring diesem Kind Respekt bei. Was hätte ich denn tun sollen, wenn sie mir nicht gehorcht?»
    Anne legte ihr eine Hand auf den Arm. «Schon gut, Großmutter. Wie wissen alle, dass du es versucht hast.»
    Wir wissen? Anne vielleicht, ich wusste gar nichts. Ich hatte eine Frau vor Augen, die sich die Stirn an der Bordsteinkante blutig schlug. Es gab keine Bordsteinkante in unserer Küche und meine Stirn war schon blutig, nicht außen. Aber dahinter sah ich Annegret Kuhlmann als zerquetschtes Fleischbündel am Straßenrand. Ich sah einen Traktor mit zu schwachen Scheinwerfern durchs Feld fahren – zu einer Zeit, wo niemand mehr draußen unterwegs sein sollte. Ich sah den Sack voller Müll unter dem Bahndamm. Die leeren Unterführungen. Matthos leere Box. Und Udo von Wirth saß bei seinem Schwager im Krankenhaus.
    Mein Hals brannte bei jedem Schluck Kaffee. Mein Rücken und die Füße schmerzten. Und mein Kopf war voll gestopft mit feuchter, blutgetränkter Watte, die der Sturm in kleinen Fetzen abriss und davonwehte wie ein Stück Pappe über den Hof.
    Anne erzählte, dass sie nach Jürgens Anruf nicht mehr ins Bett gegangen war. Dass sie meine Eltern geweckt hatte. Dass Vater sofort hinauslief, die Scheune kontrollierte und die Stallungen, den Garten, jeden Winkel. Dass er noch draußen war, wie

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