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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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saß minutenlang auf dem Bett, betrachtete Matthos Fotografie und hörte ihre Stimme: «Achtzehntausend Mark, wusstet ihr das?»
    Natürlich. Wir hatten uns danach erkundigt. Nur konnten wir keine achtzehntausend Mark aufbringen. Ich hatte, als wir nach ihrer Geburtstagsparty ins Bett gingen, zu Jürgen gesagt: «Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache. Sie ist fest überzeugt, dass morgen früh Mattho auf dem Hof steht. Wir sollten offen mit ihr sprechen. Sie ist alt genug, sie wird es verstehen.»
    Ausgelacht hatte er mich. «So weit kommt’s noch, dass ich vor meinen Töchtern den Offenbarungseid leiste. Was denkst du dir eigentlich? Meinst du, das macht Eindruck auf sie?»
    «Meinst du, deine fadenscheinigen Erklärungen machen Eindruck? Von Sonne bekommt man Krebs. Wir fahren in den Harz, Leute, da ist es schattig. Du hättest ihnen die Wahrheit sagen können. So dumm sind sie nicht. Sie wissen längst, dass wir pleite sind.»
    «Wir sind nicht pleite, meine Liebe. Wir haben einen momentanen Engpass. Jetzt mach das Licht aus. Ich will schlafen.»
    Danach war mir auch. Geld! Ein paar Scheine in die Finger gedrückt! Nicht bei uns. Und das Taschengeld auf ein Konto einzuzahlenhätte sich nicht gelohnt für vierzig Mark im Monat. Anne bekam fünfzig. Vater hatte ihnen häufig etwas zugesteckt, das wusste ich.
    Zwei Zimmer weiter weinte Anne sich ihre vermeintliche Schuld von der Seele. Ich konnte mich nicht aufraffen, zu ihr zu gehen und sie in die Arme zu nehmen. Wenn Vater starb oder zu einem Pflegefall wurde   …
    Man lässt einen alten, kranken Mann nicht allein, wenn man weiß, dass seine Frau sich vor dem Telefon fürchtet. Wenn er stirbt, dachte ich, geht sie mit. Sie wird es genau so tun wie ihre Mutter. Nicht, weil er sie braucht. Weil sie ihn braucht.
    Ich ging wieder nach unten. Drei Uhr nachmittags. In meinem Magen schwappten ein paar Tassen Kaffee und ein Weinbrand. Ich hätte etwas essen müssen, ich konnte nicht. Einige Minuten lang stand ich in der Küche, saß eine Viertelstunde im Wohnzimmer, wanderte drei Runden durchs Esszimmer. Und immer wieder in die Diele. Ich begann mich zu fühlen wie Mutter. Ein Telefon! Wenn es das nächste Mal klingelte, kam vielleicht der Tod aus der Leitung.
    Nicht sterben, Papa, bitte nicht sterben! Du warst immer so stark, du schaffst es. Du musst es schaffen. Lass dich von ein paar geplatzten Adern im Hirn nicht unterkriegen. Ich brauche dich. Auf wen soll ich mich verlassen, wenn du nicht mehr da bist? Auf Jürgen? Papa, du kennst ihn doch. Bleib bei mir, bitte. Ich muss dir noch etwas Wichtiges sagen: Ich liebe dich. Habe ich dir das je gesagt? Ich kann mich nicht erinnern. Wir haben nie mit großen Worten um uns geworfen, nicht wahr? Aber ab und zu braucht man große Worte, dann reichen die kleinen nicht. Ich glaube, ich habe es auch nie zu Rena gesagt. Doch um sie müssen wir uns nicht sorgen, sie ist mit Freunden unterwegs.
    Halb vier! Ein Knacken in den Wasserrohren, zwei Minuten lang rauschte es. Anne wusch sich das Gesicht. Dann kam sie nach unten. «Hast du Lust auf eine Partie Canasta?»
    «Was?»
    Sie lächelte verlegen, winkte ab. «Vergiss es. Ich dachte nur, das lenkt uns ein bisschen ab. Wir haben ewig nicht mehr gespielt. Aber wenn du keine Lust hast. Ich verstehe das. Sollen wir mal im Krankenhaus anrufen?»
    «Hol die Karten.»
    Wir setzten uns in die Küche. Anne war mit so großem Eifer bei der Sache, als hinge ihr Leben vom Punktestand ab. Ich dachte an Vater. Ob er bei Bewusstsein war und darauf wartete, dass ich anrief und mich erkundigte, wie er sich fühle? Ob er hoffte, mich zu sehen, wenn er die Augen aufschlug? Ich konnte nicht kommen. Ich musste beim Telefon bleiben. Und am nächsten Tag wäre ich allein, bis Anne aus der Schule kam. Ich wusste, dass ich das nicht schaffte. Junge Menschen, die an der Welt verzweifeln? Mehr wohl verzweifeln sie an ihren Eltern!
    Anne legte mit übertriebenem Triumph eine Hand voll Karten auf den Tisch, drei Joker, vier Zweien. «Jokercanasta», verkündete sie, runzelte die Stirn und sagte: «Ach, du Scheiße.»
    Sie schaute zum Fenster hin. Ich folgte ihrem Blick. Es kam jemand über den Hof, zu Fuß, in Schwarz. Anne sprang hoch und verzog ablehnend das Gesicht. «Sei mir nicht böse, Mutti, ich verzieh mich nach oben. Für den habe ich jetzt keine Nerven. Ich habe am Freitag schon gedacht, er hat den Verstand verloren. Er schleppte einen Müllsack mit sich herum, hab ich dir das erzählt? Und

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