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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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heute hatten sie Beerdigung.»
    Udo von Wirth. Ich ließ ihn ins Haus, führte ihn in das Wohnzimmer, bot ihm einen Platz an, fragte, ob er einen Kaffee trinken wolle. «Da komme ich gerade her», sagte er. «Ich hab’s nicht ausgehalten, und da dachte ich   …» Er sprach langsam, mit großen Pausen zwischen den Satzteilen. «Ich schau mal bei Ihnen vorbei und frag, wie’s geht. Ich hoffe, ich störe Sie nicht bei was Wichtigem.»
    Ich schüttelte den Kopf.
    «Sind Sie allein?»
    Ich nickte, verschwieg Annes Anwesenheit und zählte auf. Mann in der Praxis, Vater mit Gehirnschlag im Krankenhaus. Mutter bei Vater.
    «Ist alles so furchtbar!», stammelte Udo. Er starrte auf seine Hände, saß vorgebeugt im Sessel, hielt die Hände wie zum Gebet gefaltet zwischen den Knien. «Annegret hätte nicht sterben dürfen. Mein Schwager packt das nicht. Ich auch nicht. Ich weiß nicht, was ich machen soll ohne sie. Mein Vater spricht kein Wort mehr mit mir, weil’s meine Schuld ist. Ich hätte das machen sollen mit den Einkäufen. Aber ich hatte keine Zeit und   …»
    Er zuckte mit den Schultern. «Ich bin rumgefahren – die halbe Nacht. Und dann hatte ich den Unfall. Aber nur das Auto ist draufgegangen. Alle sagen, ich hätte Schwein gehabt. Ich wollt kein Schwein haben. Ich hab mir gewünscht, dass ich genau so draufgehe wie Annegret. Verstehen Sie das?»
    Ich nickte nur, wusste nicht, was ich ihm antworten sollte. Er atmete tief durch und erhob sich. «Dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Ich wollte ja nur mal sehen, wie’s geht. Bestellen Sie Ihrem Vater gute Besserung. Ich hoff, dass er sich schnell erholt. Er ist ein netter Kerl. Ich hab mich immer prima mit ihm unterhalten, wenn er zu Hennes kam.»
    Er streckte die rechte Hand aus, zog sie aber sofort wieder zurück. Ich brachte ihn zur Tür, schaute ihm nach, wie er zur Einfahrt ging. Er drehte sich noch einmal um, nickte mir zu. Dann schlich er davon. Das war nicht mehr der junge Mann, den ich bei Renas Party gesehen hatte.
    Beerdigung, dachte ich. Ein Sarg, ein Grab, Gewissheit. Für uns gab es keine. Nur die polizeilich verordnete Vermutung, dass Rena mit Freunden in einem grauen Kleinbus durchs Land fuhr. Dass sie von Zeit zu Zeit anrief, um zu hören, wie es uns ging. Dass sie kein Wort über die Lippen brachte, wenn wir uns meldeten, dass sie in den Hörer weinte, weil sie uns vermisste.

6.   Kapitel
    Wir waren eine glückliche Familie!? Ja, in gewisser Weise waren wir das – oberflächlich betrachtet. Und ich hatte von Grund auf gelernt, mich nur an der Oberfläche zu bewegen. Alles, was sauer oder bitter aufstoßen konnte, verschwand hinter der glatten Fassade. Nach einer Weile wurde es vergessen und irgendwann war es nicht mehr wahr.
    Man kennt die Beulen im eigenen Teppich, da ist es leicht, ihnen auszuweichen. Aber es kommt ein Tag, da stolpert ein Polizist, dem ständig die zu langen Haare ins Gesicht fallen, darüber.
    Ich ging hinauf, nachdem Udo um den linken Mauerpfosten gebogen war und auf dem Feldweg ins Leere schlich. Ich wollte mit Anne reden, ruhig und sachlich. Über Nita, über Rena, über Vater, über vermeintliche und tatsächliche Schuld. Anne lag zusammengerollt auf dem Bett und schlief. Ihr Kopfkissen war feucht. Ich stand minutenlang an der Tür. Und ein paar Schritte weiter war die Tür zu Renas Zimmer.
    Ich sah mich daran vorbeigehen – am Donnerstagabend – und fragte mich, wie oft ich mich noch so sehen musste. Wie oft mir bei der Erinnerung an den einen – an den letzten Moment von Nachlässigkeit und Widerwillen noch das Atmen schwer fiele. Wie lange ich den Stein in der Brust mit mir herumtragen musste. Ein schwerer Stein, das ganze Gewicht von Annes einfacher Feststellung: «Wir haben sie im Stich gelassen.»
    Nein, wir nicht. Ich! Wenn es unter unserem Dach eine Schuld gab, trug ich sie. Ich hatte kapituliert vor den Schlabberhosen und der Zebrafrisur. Ich hatte, als ich mir nicht mehr anders zu helfenwusste, nach dem Strohhalm gegriffen, den Jürgen bot; beschauliches Dorfleben und eine Frau am Herd, die hart durchgreifen konnte.
    «Sei vernünftig, Vera, und hack nicht immer auf deiner Mutter herum», hatte Jürgen gesagt. «Sei froh, dass sie so ist und nicht anders. Wenn dir ihre Ansichten zum Thema Erziehung nicht gefallen, du bist doch dabei. Du kannst ihr jederzeit deine Meinung sagen.»
    Ich war nicht dabei gewesen. Ich hatte mich bei ihm in der Praxis verkrochen, weil ich mich mit meiner Mutter nicht

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