Die Mutter
dachte, es wäre wegen der blöden Mathearbeit. Ich hätte ihr das mit ein paar Worten erklären können, sie hätte es bestimmt verstanden, es war leicht. Aber ich habe zu ihr gesagt, wenn du dich nur halb so viel mit deinen Gäulen beschäftigen würdest, hättest du die Probleme nicht.»
«Mach doch nicht ausgerechnet du dir Vorwürfe.»
Das Glas brach. «Das tu ich aber. Sie hat mich gefragt, ob ich ihr helfe. Als ich sagte, dass Patrick mich abholt, meinte sie, ich könnte es ihr doch schnell in der Pause erklären. Ich hab’s ihr auch versprochen. Aber dann kam Doktor Langfelder mit einer Fachzeitschrift. Da war ein interessanter Artikel über die Evolution drin.Den wollte ich mir kopieren. Ich war in der Bibliothek. Ich war gar nicht draußen. Ich habe nicht gesehen, dass sie mit Nita zusammen war. Und mit Menke. Armin sagte, Menke stand mit dem Bus auf der Straße. Nita und Rena standen während der ganzen Pause bei ihm.»
«Das ist nicht so wichtig.»
Anne schüttelte heftig den Kopf. «Doch, Mutti, das ist es. Begreifst du denn nicht? Dieses verkorkste Weib hat sie überredet mitzukommen. Nita hat seit Wochen rumgetönt, dass sie die Schnauze voll hat und abhauen will. Kannst du dir nicht vorstellen, wie es in Rena ausgesehen haben muss? Sie war ganz allein. Wir haben sie im Stich gelassen. Sie wusste, dass ich ihr nicht zuhöre, wenn sie mir erzählt, dass Mattho abgeholt wird. Wenn ich mit ihr geübt hätte an dem Nachmittag, wäre sie vielleicht nicht zum Reitstall gefahren. Oder Patrick und ich, wir hätten sie hingebracht und auch wieder mit zurückgenommen. Dann hätte Großvater sich nicht solche Vorwürfe machen müssen. Dann wäre das alles nicht passiert. Wenn Großvater stirbt, das halte ich nicht aus.» Anne warf sich herum, drehte mir den Rücken zu, vergrub ihr Gesicht im Kissen und weinte.
«Er wird nicht sterben.»
Sie nickte heftig, ihre Stimme klang erstickt. «Doch, das wird er. Du hast ihn nicht gesehen, Mutti. Er blutete aus der Nase und den Ohren. Sein Gesicht war blau. So etwas habe ich noch nie gesehen. Er wollte mir etwas sagen, aber er konnte nicht reden. Und Großmutter war völlig durcheinander. Es ist alles nur meine Schuld.»
Ich wollte sie trösten, aber mir fiel nichts ein. Und mich auf ihr Bett setzen, sie wortlos in die Arme nehmen … Ihr Deodorant kitzelte mich in der Nase, dieser liebliche, blumige Duft, den sie von morgens bis abends verströmte, immer sauber und frisch. Und Rena stank nach Pferd, nach Stall. Wann hatte ich Rena zuletzt in den Arm genommen?
«Welcher von denen ist überhaupt Menke?», fragte ich.
«Der Große», erklärte Anne mit ins Kissen gepresstem Gesicht. «Erinnerst du dich noch an meinen Süßstoff, wie er mit der Dose rumgespielt hat? Das ist Menke. Er ist der Leithammel in Nitas Clique.»
Als ich wieder nach unten kam, telefonierte Jürgen mit dem Krankenhaus. Es stand nicht gut um Vater. Zur Zeit konnte noch niemand etwas sagen. Jürgen war außer sich. «Dir ist klar, was passiert, wenn er stirbt?»
Natürlich war mir das klar. Wir mussten den Hof aufgeben.
«Ich hab dir doch gesagt, du sollst ihn im Auge behalten und notfalls ins Krankenhaus schaffen. Er ist mit Kopfschmerzen aufgewacht, sein Blutdruck war viel zu hoch.»
«Von zu hohem Blutdruck hast du kein Wort gesagt.»
Er winkte ab und zählte auf: «Schwindel, Taubheitsgefühle im rechten Arm und Nasenbluten. Was brauchtest du denn noch? Das muss dir doch dein Verstand gesagt haben, worauf die Symptome hindeuten. Was hast du damals eigentlich studiert?»
Ich ließ ihn stehen, ging in die Küche, spülte die Pfanne, wischte die Fettspritzer vom Herd, hörte einen Automotor und sah Klinkhammers Wagen auf den Hof fahren.
Diesmal kamen sie zu zweit. Olgert hatte eine Plastiktüte bei sich, Renas Tagebücher. Wir gingen ins Wohnzimmer, er legte die Tüte auf den Tisch und setzte sich. Klinkhammer blieb stehen.
Hatte er sich am Vormittag noch Mühe gegeben, Freundlichkeit und Anteilnahme zu heucheln oder wenigstens Neutralität in seine Stimme zu legen, machte er jetzt keinen Hehl mehr aus seiner Wut. Aus seiner Sicht mochte sie berechtigt sein. Er fühlte sich von uns hinters Licht geführt. Belogen, um es auf den Punkt zu bringen. Hatte er uns nicht nach Freunden gefragt? Und welche hatten wir ihm genannt? Ein paar nette, wohlerzogene Kinder! Kein Wort, dass da noch andere gewesen waren. Auch wenn wirnur Nita Kolter kannten, wir hätten die alte Clique erwähnen
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