Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
Vom Netzwerk:
Louies
Expedition mitzuverfolgen… sie mag die Reporterin nämlich,
und allmählich verspürt sie starkes Mitgefühl für
jeden, der sich danach sehnt, den Körper eines unerreichbaren
Menschen zu berühren.
     
    Am 5. August GMT, nur 390 Stunden nach Erreichen der
terrestrischen Fluchtgeschwindigkeit, kreuzt Louie Tynan den Orbit
des Mars, 1,57 AE von der Sonne entfernt. Damals, bei der
Mars-Expedition, hatte er noch neun Monate dafür
benötigt.
    Eigentlich sollte er diese Position erst im September erreicht
haben; er kommt wirklich gut voran. Die Mondkatapulte sind nun
länger und haben eine höhere Kadenz als je zuvor, und
obendrein hat er noch Laser-Hilfstriebwerke installiert: an der
Rückseite der Pakete befinden sich in einem hinten offenen
Zylinder Blöcke aus gefrorenem Wasserstoff, die nach dem
Katapultstart von einem starken Laser verbrannt werden und so
zusätzlichen Schub erzeugen.
    Seine Kapazität beträgt nun elf Gehirnjahre pro Minute,
mit steigender Tendenz; falls er überhaupt noch in die Kategorie
Mensch fällt, da er nicht mehr über einen Körper
verfügt, um sich als solchen auszuweisen, ist er nun der
schnellste Mensch aller Zeiten. Alle zehn Tage legt er eine
astronomische Einheit zurück, viermal so schnell wie
ursprünglich vorgesehen. Er findet, daß dafür ein
Glückwunsch fällig wäre.
    Die Nachrichten von der Erde sind bizarr; nachdem es anfangs
für unmöglich gehalten wurde, bedurfte es nur eines guten
XV-Programms, um den Zweiten Globalen Aufstand zu beenden. Er ist
sich gar nicht mehr sicher, ob er überhaupt wieder ein Mensch
sein will. Außerdem stellt er erfreut fest, daß er Jesse
und Mary Ann mag, und dann gelangt er zum Kern der Sache:
jeder, der sonst nichts zu tun hat, bleibt zu Hause, um sich in die
Helden einzulinken. Wenn man sich schon nicht auf die
Solidarität der Leute verlassen kann, stören sie wenigstens
nicht. Das ist indessen etwas deprimierend.
    Carla hat ihm die Opferung seines Körpers anscheinend
verziehen, obwohl er erst dann wirklich das Gefühl haben wird,
daß sie ihm vergeben hat, wenn sie wieder in Echtzeit-Kontakt
miteinander treten und ihre Gefühle tatsächlich
austauschen. Aber trotzdem ist es schon mal ein gutes Zeichen,
daß sie keinen Zorn mehr auf ihn verspürt.
    Er steht jetzt ungefähr fünf Lichtminuten von der Erde
entfernt, was bedeutet, daß zwischen dem Absenden einer
Nachricht an Carla und dem Eintreffen ihrer Antwort hundert
Relativ-Mentaljahre verstreichen. Weil er überhaupt nicht mehr
schläft, ist diese Zeitspanne indes ein Drittel länger und
beläuft sich alles in allem auf 146 Jahre. In dieser Zeit kann
er viele Überlegungen anstellen; aber zum Glück
erhöhen Carlas Kapazitäten sich auch.

Louie hat sich mit vielen philosophischen Problemen befaßt
und manche auf ihren bloßen subjektiven Gehalt reduziert.
Früher hatte er sich nie sonderlich für Philosophie
interessiert, und er befaßt sich auch nur damit, weil es
für ihn die effektivste Art ist, die Prozessoren auszulasten;
schließlich muß er die Zeit irgendwie nutzen. Sonst
würden nämlich Erinnerungen wach werden, die er
verknüpfen und dann auf eine Art und Weise reagieren würde,
die den aktuellen Gegebenheiten überhaupt nicht angemessen
ist.
    Eine Weile versuchte er, dem Ursprung dieser Emotionen auf den
Grund zu gehen und gelangte schließlich zu dem Schluß,
daß es sich um Hysterese handeln müsse. Im menschlichen
Körper entstehen Emotionen aufgrund der bei mentalen
Vorgängen ablaufenden chemischen Prozesse; die chemischen
Substanzen wirken sich unterschiedslos auf jede Zelle des
Nervensystems aus, und die Entsorgung eines chemischen Stoffes dauert
länger als das Auslösen eines elektrischen Signals. Dadurch
entsteht eine in sich geschlossene Emotionalität (selbst bei
unterschiedlichen Signalen), so daß zwischen Gefühl und
konkreter Situation keine Kongruenz besteht, weil die bei
früheren mentalen Vorgängen synthetisierten Stoffe noch
nicht völlig abgebaut sind.
    In Louies Fall dauert die durch die Denkvorgänge verursachte
Hysterese – die in einem Leiter entstehende Selbstinduktion,
wodurch der Strom ständig weiterfließt – etwas
länger als der verzögerte Abbau der chemischen Substanzen
in seinem alten Körper. Dies liegt an seiner schieren
Größe, an der Verzweigung und der Parallelvernetzung, die
viel schneller arbeitet als die ›Elektronik‹, die seine
Existenz als Mensch sicherte. Und irgendwo in dieser kleinen, durch
eine

Weitere Kostenlose Bücher