Die Mutter des Erfolgs - Die Mutter des Erfolgs
auch einen. In der dritten Klasse haben sich Mitschüler über mich lustig gemacht. Wisst ihr, was sie heute sind? Hausmeister sind sie geworden.»
«Woher weißt du das?», fragte Sophia dann.
«Frag stattdessen lieber, wie es dir wohl erginge, wenn dunach China auswandern müsstest, Sophia. Was glaubst du, wie perfekt dein Akzent wäre? Ich will nicht, dass ihr provinzielle Amerikaner werdet. Ihr wisst ja, was für fette Amerikaner es gibt. Heute werden auf einmal auch die Chinesen in China fett – nach dreitausend Jahren Magerkeit! –, und das liegt daran, dass sie Kentucky Fried Chicken essen.»
«Moment mal», sagte Sophia. «Hast du nicht gesagt, dass du als Kind so dick warst, dass dir keine Klamotten aus dem Laden gepasst haben und deine Mama dir extra was nähen musste?»
«Das stimmt.»
«Und dass du so dick warst, weil du dich mit Mamas Nudeln und Knödeln vollgestopft hast», fuhr Sophia fort. «Hast du nicht mal fünfundvierzig sio-mai hintereinander gegessen?»
«Allerdings», antwortete ich. «Mein Dad war sehr stolz auf mich. Das war zehnmal so viel, wie er essen konnte. Und dreimal so viel wie meine Schwester Michelle. Sie war spargeldürr.»
«Also kann man von chinesischem Essen genauso dick werden», trumpfte Sophia auf.
Womöglich war meine Logik nicht wasserdicht. Aber ich versuchte ihnen etwas nahezubringen, das mir wirklich am Herzen liegt. Ich schätze Weltbürgertum sehr, und um sicherzustellen, dass die Mädchen mit verschiedenen Kulturen in Berührung kommen, haben Jed und ich sie immer mitgenommen, wenn wir verreisten – auch wenn wir dafür manchmal, als die Mädchen klein waren, zu viert in einem Bett schlafen mussten, weil wir uns damals nichts Besseres leisten konnten. Infolgedessen hatten die beiden im Alter von zwölf und neun schon London, Paris, Nizza, Rom, Venedig, Mailand, Amsterdam, Den Haag, Barcelona, Madrid,Malaga, Liechtenstein, Monaco, München, Dublin, Brüssel, Brügge, Straßburg, Beijing, Shanghai, Tokio, Hongkong, Manila, Istanbul, Mexico City, Cancun, Buenos Aires, Santiago, Rio de Janeiro, São Paulo, La Paz, Sucre, Cochabamba, Jamaica, Tanger, Fez, Johannesburg, Kapstadt und den Felsen von Gibraltar gesehen.
Auf unsere Ferien freuten wir uns alle das ganze Jahr. Häufig stimmten wir uns mit meinen Eltern und Cindy ab und waren dann zu siebt in einem gemieteten Kleinbus unterwegs, den Jed fuhr. Wir kicherten, wenn Passanten uns nachstarrten und sich über unsere seltsame Rassenkombination wunderten. (War Jed der weiße Adoptivsohn einer asiatischen Familie? Oder ein moldawischer Kidnapper, der jetzt seine Beute in die Sklaverei verkaufte?) Sophia und Lulu vergötterten ihre Großeltern, die ihrerseits ganz vernarrt in die Mädchen waren und sich ihnen gegenüber völlig anders verhielten, als sie mich erzogen hatten, nämlich praktisch antiautoritär.
Besonders fasziniert waren die Mädchen von meinem Vater, der anders war als alle ihnen bekannten Menschen. Immer wieder verschwand er in Seitengassen und kam dann beladen mit örtlichen Spezialitäten zurück, wie Suppenknödeln in Shanghai und socca in Nizza. (Mein Dad probiert mit Begeisterung alles aus; in westlichen Restaurants bestellt er oft zwei Hauptgerichte.) Immer wieder gerieten wir in verrückte Situationen – standen mit leerem Tank auf dem Scheitelpunkt eines Gebirgspasses oder saßen mit marokkanischen Schmugglern in einem Bahnwaggon. Wir hatten tolle Abenteuer, und unsere Reisen sind uns allen in kostbarer Erinnerung.
Es gab nur ein Problem: das Üben.
Zu Hause verging kein einziger Tag, an dem die Mädchennicht Klavier und Geige übten; auch Geburtstage waren kein Hinderungsgrund, so wenig wie Krankheiten und Kieferoperationen: Für solche Fälle gab es Medizin. Ich sah nicht ein, weshalb wir von dieser Tradition abweichen sollten, nur weil wir unterwegs waren. Zwar waren sogar meine Eltern dagegen, die kopfschüttelnd sagten: «Das ist verrückt, lass doch die Mädchen ihre Ferien genießen. Was macht es schon, wenn sie ein paar Tage nicht üben.» Aber ernsthafte Musiker sehen das anders. Um es mit Lulus Geigenlehrer Mr. Shugart zu sagen, ist «jeder Tag, an dem du nicht übst, ein Tag, an dem du schlechter wirst». Ich wiederum spornte sie mit Argumenten an wie: «Wisst ihr, was die Kims tun, während wir Ferien machen? Üben. Die Kims machen keine Ferien. Sollen sie uns etwa überholen?»
In Lulus Fall war der Transport kein Problem. Im Flugzeug war die Geige ihr Handgepäck und
Weitere Kostenlose Bücher