Die Mutter des Erfolgs - Die Mutter des Erfolgs
Zuschauer)
Ernüchtert blickte ich auf die Noten, die mir enttäuschend schütter vorkamen – ich sah ein paar Stakkatotöne hier und dort und insgesamt wenig Dichte oder Tiefe. Und so ein kurzes Stück – nur sechs fotokopierte, abgegriffene Seiten.
Sophia und ich waren in Professor Wei-Yi Yangs Klavierstudio an der School of Music in Yale, einem weiten länglichen Raum mit zwei schwarzen Steinway-Stutzflügeln, die nebeneinander aufgestellt waren, der eine für den Lehrer, der andere für den Schüler. Ich starrte auf «Julia als junges Mädchen» aus Sergei Prokofjews Romeo und Julia , das Wei-Yi als Beitrag zu einem bevorstehenden internationalen Klavierwettbewerb für Sophia ausgesucht hatte.
Bei unserem ersten Treffen hatte Wei-Yi mir gesagt, er habe nie eine so junge Schülerin wie sie gehabt – Sophia warknapp vierzehn. Die Schüler, die er unterrichte, seien Klavierstudenten höheren Semesters, gelegentlich auch einmal Jüngere, wenn sie von ungewöhnlichem Kaliber seien – jedenfalls nur Studenten, keine Schüler in Sophias Alter. Aber nachdem er sie hatte spielen hören, war er bereit, sie aufzunehmen, allerdings unter der Bedingung, dass sie keine Sonderbehandlung aufgrund ihrer Jugend erwartete. Das sei überhaupt kein Problem, versicherte ich.
Ich bin unendlich froh, dass ich mich auf Sophia verlassen kann. Sie hat unerschöpfliche innere Kraftquellen. Sie wird mit allem fertig, mit Ausgrenzung, vernichtender Kritik, Demütigung, Einsamkeit – noch besser als ich.
So begann Sophias Feuertaufe. Wie Mrs. Vamos hatte Wei-Yi Erwartungen von einer Größenordnung, die von unseren bisherigen Kategorien Lichtjahre entfernt waren. Der Stapel Noten, den er Sophia in ihrer ersten Stunde überreichte – sechs Inventionen von Bach, ein Buch mit Etüden von Moszkowski, eine Beethoven-Sonate, eine Toccata von Chatschaturjan und die Rhapsodie in g-Moll von Brahms –, schockierte sogar mich. Sophia habe einiges aufzuholen, erklärte er; ihr technischer Grundstock lasse zu wünschen übrig, und in ihrem Repertoire klafften große Lücken. Noch einschüchternder war seine Bemerkung: «Und vergeude nicht meine Zeit mit falschen Tönen. Auf deinem Niveau gibt es keine Ausreden. Es ist an dir, die Noten richtig zu spielen, damit wir während des Unterrichts an anderen Dingen arbeiten können.»
Aber zwei Monate später, als Wei-Yi Yang die Stücke aus dem Ballett Romeo und Julia vorschlug, reagierte ich genau umgekehrt. Der Prokofjew wirkte in keiner Weise anspruchsvoll – ich hatte nicht den Eindruck, damit lasse sich ein Wettbewerb gewinnen. Und warum Prokofjew? Das Einzige, wasich von Prokofjew wusste, war, dass er Peter und der Wolf komponiert hatte. Warum nicht etwas Schweres wie Rachmaninow?
«Ach, das!», sagte ich laut. «Sophias frühere Klavierlehrerin fand es zu leicht für sie.» Das stimmte nicht ganz. Eigentlich stimmte es überhaupt nicht. Aber ich wollte nicht, dass Wei-Yi dachte, ich stellte sein Urteil in Frage.
«Leicht?» , brauste Wei-Yi verächtlich auf. Er hat einen tiefen Bariton, der in eigenartigem Kontrast zu seiner schmächtigen, knabenhaften Gestalt steht. Er ist in den Dreißigern, japanisch-chinesischer Abstammung, aber in London aufgewachsen und von Russen ausgebildet. «Prokofjews Klavierkonzerte tragen den Himmel! Und nichts an ihm, keine einzige Note, ist leicht. Ich fordere jeden heraus, ihn gut zu spielen.»
Das gefiel mir. Ich liebe Autoritäten. Ich liebe Experten . Ganz im Gegensatz zu Jed, der Autorität hasst und die meisten «Experten» für Scharlatane hält. Noch wichtiger: Der Prokofjew war nicht leicht! Also sprach Professor Wei-Yi Yang, ein Experte. Hurra!
Und als ich dann hörte, dass die ersten Preisträger bei diesem Wettbewerb als Solisten in der Carnegie Hall auftreten würden, setzte mein Herz aus. Bis jetzt hatte Sophia nur an lokalen Wettbewerben teilgenommen. Ich war ja schon durchgedreht, als Sophia mit dem Farmington-Valley-Symphonieorchester, einem reinen Laienorchester, aufgetreten war. Der Sprung von dieser Ebene zu einem internationalen Wettbewerb war beängstigend genug; aber eine Chance, in der Carnegie Hall aufzutreten – allein der Gedanke daran war mir fast zu viel.
Im Verlauf der nächsten Monate lernten Sophia und ich, was es heißt, Klavierunterricht von einem Meister zu bekommen.Mitzuerleben, wie Professor Yang mit Sophia «Julia als junges Mädchen» erarbeitete, war eine der beeindruckendsten und demütigendsten Erfahrungen
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