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Die Mutter des Erfolgs - Die Mutter des Erfolgs

Titel: Die Mutter des Erfolgs - Die Mutter des Erfolgs Kostenlos Bücher Online Lesen
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meines Lebens. Während er ihr half, das Stück zum Leben zu erwecken und Schicht um Schicht immer neue Nuancen herauszuarbeiten, konnte ich nur eins denken: Der Mann ist ein Genie. Ich bin eine Banausin. Prokofjew war ein Genie. Ich bin ein Kretin. Wei-Yi und Prokofjew sind überragend. Ich bin eine Kannibalin.
    Sophia zum Unterricht bei Wei-Yi zu begleiten, wurde mir zur Lieblingsbeschäftigung – ich freute mich schon die ganze Woche darauf. Immer wieder fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und ich schrieb andächtig alles mit. Gelegentlich gelangte ich an meine Grenzen – was war gemeint, wenn er von Tritonen sprach und der Stufentheorie und den Erfordernissen der Harmonik, und warum schien Sophia das alles im Handumdrehen zu begreifen? Dann wieder bekam ich manches mit, das Sophia entging, denn ich beobachtete Wei-Yis Demonstrationen mit Adleraugen und machte mir zur Erinnerung manchmal sogar Skizzen. Wieder zu Hause, arbeiteten wir beide auf ganz neue Weise zusammen, versuchten gemeinsam Wei-Yi Anweisungen und Erläuterungen nachzuvollziehen und umzusetzen. Ich musste Sophia nicht mehr anschreien oder mit ihr um das tägliche Üben kämpfen. Sie war angeregt und motiviert; es war, als hätte sich ihr eine neue Welt erschlossen – wie auch für mich, als ihre Juniorpartnerin.
    Das Schwierigste am Prokofjew war das schwer fassbare Julia-Thema, das Rückgrat des Stücks. Sophia äußerte sich selbst darüber, als sie später in einem Schulaufsatz über «Die Eroberung der Julia» schrieb:
     
    Ich hatte die letzten Töne von «Julia als junges Mädchen» gespielt, und im Übungszimmer war es totenstill. Professor Yang starrte mich an. Ich starrte auf den Teppich. Meine Mutter kritzelte wild in unser Klaviernotizbuch.
    Ich ging das Stück im Geist noch einmal durch. Waren es die Läufe? Die Sprünge? Ich hatte sie alle bewältigt. War es die Dynamik oder das Tempo? Ich hatte doch alle vorgeschriebenen Crescendi und Ritardandi beachtet. Meiner Meinung nach war mein Vortrag fehlerlos gewesen. Was hatten sie also alle, und was erwarteten sie noch mehr?
    Endlich sprach Professor Yang. «Sophia, welche Temperatur hat das Stück?»
    Ich war völlig ratlos.
    «Gut, schwierige Frage. Ich mach es leichter. Sieh dir den mittleren Teil an. Welche Farbe hat er?»
    Mir wurde klar, dass ich eine Antwort geben musste. «Blau? Hellblau?»
    «Und welche Temperatur hat hellblau?»
    Das war leicht. «Hellblau ist kühl.»
    «Dann lass diese Phrase kühl sein.»
    Was für eine Anweisung war das denn? Das Klavier ist ein Schlaginstrument; Temperaturen haben da nichts zu suchen. Im Geist hörte ich die eindringliche, zarte Melodie. Denk nach, Sophia! Es war Julias Thema, das wusste ich. Aber wer ist Julia, und inwiefern ist sie «kühl»? Eine Bemerkung von Professor Yang aus der vergangenen Woche fiel mir wieder ein: Julia ist vierzehn, so alt wie ich. Was würde ich tun, wenn mir ein hübscher Junge, der älter ist als ich, seine unsterbliche Liebe erklärt? Also , dachte ich, dass sie begehrenswertist, weiß sie schon; aber es ist ihr auch peinlich, und zugleich fühlt sie sich geschmeichelt. Sie ist fasziniert von ihm, aber auch schüchtern und möchte auf keinen Fall übereifrig wirken. Das war eine Kühle, die ich verstehen konnte. Ich holte tief Luft und fing an.
    Zu meinem Schrecken war Professor Yang zufrieden. «Besser. Jetzt noch mal, aber diesmal lass Julia in deinen Händen sein, nicht in deiner Mimik. Schau her …»
    Er ließ mich zur Seite rücken und führte es mir vor.
    Nie werde ich vergessen, wie er die kleine Melodie verwandelte. Das war die Julia, wie sie mir vorschwebte: verführerisch, verletzlich, ein bisschen blasiert. Das Geheimnis, begann mir zu dämmern, besteht darin, dass man die Hand den Charakter des Stücks spiegeln lässt. Professor Yangs Hand war gewölbt wie ein Zelt; er entlockte den Tasten die Töne. Seine Finger waren sehnig und elegant wie die Beine einer Tänzerin.
    «Jetzt du», befahl er.
     
    ***
     
    Leider ist die Julia nur das halbe Stück. Auf der nächsten Seite tauchte eine neue Figur auf, der liebeskranke, testosterongesteuerte Romeo. Er stellte eine ganz andere Herausforderung dar; sein Ton ist so voll und muskulös, wie Julias Ton ätherisch und fragil ist. Und natürlich hatte Professor Yang noch mehr Nüsse für mich zu knacken.
    «Sophia, dein Romeo und deine Julia klingen völlig gleich. Von welchen Instrumenten werden sie gespielt?»
    Ich kapierte nichts. Äh – Klavier?

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